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Die Gemeinschaft Europa ist ein Prozess, der sich ständig neu erfindet - dem muss die Politik Rechnung tragen.
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Kultur ist jenes Kleid, das der Mensch als gestaltendes Wesen webt. Die Zeugnisse der Geschichte dokumentieren sein Streben zwischen Ideal und Irrtum. Die Kathedralen der Gotik künden davon, wie der Glaube den Menschen jenseits des Zeitlichen verankerte. Indem mit Renaissance und Aufklärung der Mensch sein eigener Pol wurde, wurde er sich selbst zur Frage, der Sinnsuche ausgesetzt. Mit der Industriellen Revolution folgte die Loslösung der Bewegung von der individuellen inneren zur kollektiv getakteten Kraft. Die Moderne leitete die Fragmentierung von Wirklichkeit, Wahrnehmung und schließlich des Menschen selbst ein. Die Grenzen zwischen dem, was ihn als Ganzes erschienen ließ, und seinen Teilen wurden fließend, seine Identität unscharf.
Individualität ist - wie Freiheit - nicht ohne Bindung an Gemeinschaft möglich. Aber sie braucht die Rückeroberung der Eigen-, der Überzeitlichkeit: Sei es im Kreislauf der Generationen, in der Bindung des Fortschritts an einen sinnstiftenden Zusammenhang oder in Antwort auf die Frage des Menschen als endlichem Wesen nach seiner Bestimmung. Wo Leben wie Kultur als Weg begriffen werden, kann Europas Wesen nicht Sicherheit im Ungewissen sein. Die Frage lautet vielmehr: Wie ist individuelle Erfüllung, Vollendung in seinsimmanenter Unvollkommenheit und permanenter Vorläufigkeit möglich?
"Jedem von uns ist ein Lied gegeben, es im Chor der Gemeinschaft zu singen", sagt der österreichische Komponist Gerhard Fitzinger. Europa - eine Sinfonie, aber keine fertig durchkomponierte, sondern ein sozialer Prozess, der sich mit jeder Note, jedem Takt, jedem Satz neu erfindet. "Europa, die permanente Unvollendete", die sich dadurch realisiert, dass man sich individuell im Miteinander verwirklicht.
Brüssel, 8. Februar 2013: Wieder ein verlorener Gipfel, der sich im Fiskalisch-Technischen verliert und zu keiner Perspektive findet. Politik muss wieder Rahmenpolitik werden mit dem Auftrag, Europa sich als sozialen Prozess entwickeln zu lassen. Eine solche setzt dabei an, Kommunikation zu fördern. Aufgabe von Schule und Bildung in diesem Zusammenhang ist es, dass jeder erkennen lernt, worin sein Lied besteht. "Soziale Pädagogik" begreift den Prozess des Lernens als individuelle Entfaltung in einem dialogischen, interaktiven Zusammenwirken, als Abenteuer des Entdeckens, Erschließens und Entwickelns, ausgehend von der Klasse als kleinstem gemeinsamen sozialen Netzwerk.
Europa ist kein Krisenprojekt. Es beginnt bei den Träumen, Plänen, Hoffnungen jedes Einzelnen, denn jeder lebt nur einmal. Die Schlagzeilen müssen endlich jenen gehören, die neue Perspektiven eröffnen, getragen vom Geist der Europa-Hymne Friedrich Schillers und Ludwig van Beethovens: der "Ode an die Freude!"