Zum Hauptinhalt springen

"Europa steht am Scheideweg"

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Abkehr vom Euro würde Produkte um 30 Prozent verteuern, meint Martin Schulz.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Immer wieder ist von der schwersten Krise der Europäischen Union die Rede. Heißt das, es kann gar nicht schlimmer werden?Martin Schulz: Das weiß man nie. Aber es ist schon schlimm. Wir stehen jedenfalls am Scheideweg. Wir müssen Entscheidungen treffen: ob wir eine gemeinsame Währung wollen, und wenn ja, wie wir sie stabilisieren können. Ob und wie wir das Wirtschaftswachstum fördern können. Ob wir einen ambitionierten Haushaltsplan möchten, der regionale Entwicklung, Forschung und Umweltpolitik finanziert. Das sind Entscheidungen, die nun anstehen. Wenn sich aber die Staaten weiter im Vertagen üben, wird sich die Krise verschärfen.

Ist nicht gerade das zögerliche Handeln das Problem? Die EU-Kommission macht einen Vorschlag - zum Beispiel zur Schaffung einer Bankenunion. Die Staaten beraten darüber; das EU-Parlament bringt seine Ideen ein. Die Vorschläge werden geändert, dann wird wieder darüber beraten. Und in der Zwischenzeit steigen die Zinsen, was die Länder beim Schuldenmachen in noch größere Schwierigkeiten stürzt.

Es ist ein Fehler, die Langsamkeit des politischen Systems für Zinsspekulationen verantwortlich zu machen. Das ist auseinanderzuhalten. Um beim Beispiel Bankenunion zu bleiben: Das EU-Parlament ist bereit, sie so schnell wie möglich umzusetzen. Doch die Regierungschefs sind sich nicht einig. Warum gibt es keine Bankenlizenz für den Euro-Rettungsfonds? Italiens Premier Mario Monti will sie, Frankreichs Präsident François Hollande auch, aber die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht. Dennoch hat das mit den Zinsspekulationen nichts zu tun.

Die Staaten können also nur wenig dagegen unternehmen? Die Spekulation zu durchbrechen wäre Aufgabe der Europäischen Zentralbank oder eines Euro-Stabilitätsmechanismus, der eine Bankenlizenz erhält, um etwa Italien vernünftig zu refinanzieren. Wir können schnell handeln, ohne das parlamentarische System außer Kraft zu setzen. Den Satz von Kanzlerin Merkel: "Ich will die marktkonforme Demokratie" unterschreibe ich nicht. Ich will einen demokratisch organisierten Markt.

Wären gemeinsame Anleihen, die Euro-Bonds, ein Schritt in diese Richtung?

Ich bin dafür; jemand hat mich schon als den "letzten Bondianer" in meiner Partei, der SPD, bezeichnet. Aber es nutzt nichts, bei Theorie-Debatten alt zu werden. Die Anleihen werden vorerst nicht kommen, weil ein paar Staaten - darunter Deutschland - dagegen sind. Es ist merkwürdig, dass alle Instrumente, die darauf hinauslaufen, die Zinslasten zu senken, blockiert werden von den Ländern, die derzeit von null Prozent Zinsen profitieren. Diese Entsolidarisierung hält die Union nicht durch.

Etliche Bürger fragen sich aber schon, ob die Solidarität - etwa mit Griechenland - nicht an ihre Grenzen gelangt. Manche wünschen sich gar die D-Mark oder den Schilling zurück. Wie ist solch einer Skepsis zu begegnen?

Sie ist ernst zu nehmen. Doch warne ich davor, jeden Kritiker des derzeitigen Zustandes als Anti-Europäer zu bezeichnen. Ich bin ja auch kritisch, dennoch ein glühender Befürworter der Europäischen Union. Ich wäre aber dankbar, wenn die Politiker den Menschen in Deutschland oder Österreich sagen würden: Nichts ist alternativlos.

Was sollen sie anbieten? Eine Rückkehr zum Nationalstaat?

Ja, die Alternative zu Europa ist die Renationalisierung. Da ist aber gleich dazu zu sagen, was das konkret bedeutet. Wenn Deutschland die D-Mark und Österreich den Schilling wieder einführt, würden die Länder einen Aufwertungsdruck erleben, wie ihn die Schweiz hatte. Deutsche Produkte würden im Schnitt um 25 bis 30 Prozent teurer werden, allein im Binnenmarkt der Union, geschweige denn auf internationalen Märkten. Das ist für exportorientierte Länder, wie es auch Österreich ist, extrem schwierig.

Hat diese Renationalisierung nicht bereits begonnen?

In der Rhetorik ja, und aus der kann Handlungsrealität werden. Die Staats- und Regierungschefs, die sich selbst zur Regierung Europas erklärt haben, haben aber gleichzeitig eine Pflicht ihren Bürgern gegenüber. Der österreichische Bundeskanzler etwa muss zuerst an Österreich denken und dann an Europa. Die entscheidende Frage ist aber, ob der Fortschritt Europas nicht das Beste ist, was Österreich passieren kann.

Umgekehrt gibt es zwischenstaatliche Vereinbarungen, wie den Fiskalpakt, der zunächst außerhalb der EU-Verträge steht. Den hat das deutsche Verfassungsgericht gerade bestätigt. Ist das nicht ein Zeichen für eine Machtverschiebung: eine Renationalisierung der gesamten EU-Politik?

Der Fiskalpakt ist nicht geschaffen worden zur Renationalisierung, sondern um die Haushaltsdisziplin in den EU-Verträgen zu verankern. Großbritannien wollte nur unter der Bedingung mitmachen, dass es keine weiteren Regulierungen für den Finanzmarkt mehr gibt. Der Fiskalpakt muss innerhalb von fünf Jahren in EU-Recht eingehen, und zuständig für seine Einhaltung sind EU-Organe. Die Bestätigung des Verfassungsgerichts trägt zur Stabilisierung Europas bei und stärkt gleichzeitig die parlamentarischen Rechte. Das ist also keine Renationalisierung, aber ein Umweg, weil einzelne Politiker aus puren nationalen Überlegungen ein Fortkommen der EU torpediert haben.

Diese Überlegungen verschiedener Regierungen werden ja auch oft von rechtsgerichteten Parteien angetrieben. Europa-Skepsis scheint sich immer besser zu verkaufen. Oder zeigt das Wahlergebnis in den Niederlanden doch einen anderen Trend an?

Das Ammenmärchen, dass in Krisenzeiten der Nationalstaat besseren Schutz bietet als die Europäische Union, wird dadurch unterfüttert, dass die EU diese Krise seit drei Jahren nicht löst. Aber warum nicht? Da sitzen die 27 Staats- und Regierungschefs bei ihren Gipfeln zusammen, behaupten, sie seien die Regierung Europas und schaffen es dann so zu tun, als hätten sie am Ende mit den aktuellen Problemen gar nichts zu tun. Im Erfolgsfall gibt es Applaus für die Staaten, im Fall des Misserfolgs wird alles auf Europa geschoben. Das ist Wasser auf die Mühlen der Ultranationalisten. Dennoch orte ich ermutigende Zeichen zu einer Trendwende. In den Niederlanden hat sich gezeigt, dass die proeuropäischen Parteien der Vernunft einen überwältigenden Sieg errungen haben und die Rechtspopulisten mit ihrer gefährlichen antieuropäischen Rhetorik abgestraft wurden. Auch haben sich dort Arbeitnehmer- und Wirtschaftsverbände zuletzt massiv für den Euro ausgesprochen. Ähnliches ist in Deutschland zu beobachten.

Nichtsdestotrotz beginnt nun wieder das Tauziehen um den finanziellen Beitrag der Staaten zum mehrjährigen EU-Haushaltsplan. Deutschland und Österreich gehören als Nettozahler zu jenen Ländern, die nicht mehr Geld als bisher ausgeben wollen. Vermissen Sie da Solidarität?

Merkel und Kanzler Werner Faymann haben eine klare, gemeinsame Vorgehensweise. Sie sagen: "Wir wollen wissen, wie die Prioritäten sind und in welcher Form die Mittel verausgabt werden. Danach reden wir über die Summen." Sie sind nicht für Kürzungsorgien wie manche andere. Denn für Österreich, für dessen Unternehmen die Märkte in Osteuropa von großer Bedeutung sind, ist es auch wichtig, dass die Förderungen dort erhalten bleiben. Berlin und Wien wollen nicht mit dem Rasenmäher kürzen, sondern wünschen sich strukturelle Analysen.

Sie teilen diese Auffassung, obwohl das EU-Parlament sonst mehr Geld fürs Unionsbudget fordert?

Auch unter den Ländern gibt es unterschiedliche Meinungen. Manche Staaten wollen ebenfalls mehr Geld, manche wollen alles kürzen, andere möchten den jetzigen Zustand einfrieren. Noch sehe ich keinen Kompromiss. Eines ist aber klar: Man kann nicht bei Gipfeltreffen Wachstum und Beschäftigung als Ziel propagieren und anschließend jene Maßnahmen kürzen, die Wachstum und Beschäftigung stimulieren sollen. Auch muss der Egoismus einzelner Mitgliedsstaaten hinterfragt werden. Das Europaparlament ist kampfbereit, für europäische Solidarität und vor allem Vernunft. Es ist unvernünftig, in Krisenzeiten die Investitionsfähigkeit zu begrenzen.

Um dem entgegenzuwirken, treten Sie im Falle Griechenlands für Sonderwirtschaftszonen ein. Was sollte das bringen?

Ich möchte, dass wir denjenigen, die in Griechenland investieren wollen, helfen. Dazu braucht es drei Dinge. Zum einen ein Bekenntnis zum Euro: Niemand investiert in einem Land, wo er zu hören bekommt, dass die Währung dort morgen vielleicht nicht mehr gültig ist. Zweitens müssen die Griechen akzeptieren, dass die Menschen in ihre staatliche Verwaltung nicht ausreichend Vertrauen haben. Wir könnten daher eine Kooperation starten, eine Wachstumsagentur, die aus europäischen und griechischen Beamten besteht.

Die Griechen sollten also doch unter Kuratel gestellt werden?

Das ist ja keine Besatzungsmacht. Es sind Beamte einer Union, der auch Griechenland angehört. Und wenn diese Bedingungen erfüllt sind, brauchen wir auch noch Anreize für Investoren. Wenn diese dorthin gehen, um in die Solarenergie, den Tourismus oder die Infrastruktur zu investieren, und sie stellen dabei arbeitslose Jugendliche ein, dann sollten sie eine Investitionszulage oder eine Steuererleichterung bekommen. So haben wir andere Regionen, die in Schwierigkeiten waren - etwa in Deutschland - auch nach vorne gebracht. Es geht vor allem darum, Hoffnung zu vermitteln. Wir reden immer nur über diese Negativspirale; wir hören immer nur, was nicht geht. Wir müssen endlich darüber anfangen zu reden, wie es gehen kann. Daher der Vorschlag mit den Sonderwirtschaftszonen: Wir müssen es mit außergewöhnlichen Maßnahmen versuchen, denn wir sind in einer außergewöhnlichen Situation.

Martin Schulz ist seit Anfang des Jahres Präsident des EU-Parlaments. Diesem gehört der deutsche SPD-Politiker seit 1994 an.