Mitten in der Multi-Krise der EU entsteht erstmals eine echte europäische Innenpolitik.
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Ratlos, hilflos und planlos, so scheint es in diesen Tagen, führen Europas politische Eliten den Kontinent zurück in die frühen 1990er, als Grenzen die Staaten der EU voneinander trennten, nationale Währungen existierten, aber die "immer engere Union" der römischen Verträge, des Fundaments der EU, über einige Strahlkraft verfügte.
Gerade noch potemkinsche Lösungen, die Handlungsfähigkeit simulieren sollen, bringen diese politischen Eliten derzeit zustande: zu glauben, dass die geplante Verteilung tausender Flüchtlinge aus Italien und Griechenland nach Ungarn, in die Slowakei oder ins Baltikum in der Praxis funktionieren kann, erfordert schon ein gerüttelt Maß an Gottvertrauen. Dass Schengen so gerettet werden kann, ist nicht sehr wahrscheinlich. Womit, nach dem noch immer nicht fertig geretteten Euro, das zweite zentrale Narrativ der Europäischen Union wankt.
Bemerkenswert ist freilich, dass gleichzeitig mit diesem drohenden Scheitern eines großen Teils des europäischen Projektes plötzlich ein ganz anderes Europa in Konturen sichtbar wird: ein Europa, in dem plötzlich und spontan aus nationaler Politik eine Art europäischer Innenpolitik geworden ist. Da werden im deutschen Bundestag oder im österreichischen Nationalrat die Entscheidungen der griechischen Regierung mit der gleichen Vehemenz und Detailtreue diskutiert, als handle es sich um inländische Politik, wird die ungarische oder die italienische Asylpolitik in Warschau oder Berlin genauso intensiv wahrgenommen und kommentiert, als ginge es um die Lausitz oder Bayern. Wenn die Lage am Kanal-Tunnel zwischen Frankreich und Großbritannien eskaliert, wird das in ganz Europa als europäisches Problem betrachtet, genauso wie im Mittelmeer ertrinkende Migranten oder ein an der türkischen Küste angespültes totes Kind.
Plötzlich scheinen (fast) alle begriffen zuhaben, dass eine falsche Entscheidung der Regierung in Athen Folgen für deutsche Steuerzahler hat und die Flüchtlingspolitik Italiens, Spaniens oder Serbiens mit darüber entscheidet, wie viele Migranten in österreichische Lager strömen. Oder auch, dass eine Einladung der deutschen Kanzlerin an Syrer, ins Land zu kommen, auch für alle anderen Schengen-Staaten gilt, ob man das dort mag oder nicht.
Am Salzburger Stammtisch wird debattiert, welcher Teufel Angela Merkel geritten haben mag, Franzosen im Café meckern über Viktor Orban, die Briten halten alle anderen für verrückt - alles recht turbulent, aber plötzlich fühlt es sich in manchen Momenten so an, als trügen hier Vorarlberger, Kärntner und Wiener miteinander Konflikte aus und nicht unterschiedliche Nationen.
Plötzlich, so scheint es, ist Europas Öffentlichkeit klar geworden, dass alles mit allem zu tun hat, dass jede nationale Entscheidung auf die anderen Nationen erhebliche Auswirkungen hat. Fast könnte man meinen, in diesem Frühherbst 2015 entstünde, während die europäischen Institutionen wanken und ächzen, so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit und - wichtiger noch - so etwas wie eine europäische Innenpolitik.
Was daraus wird, weiß niemand zu sagen. Gut möglich, dass sich in diesem Herbst das künftige Gesicht der Europäischen Union entscheidet.