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Europa sucht eine Integrationsfigur

Von Hermann Sileitsch

Wirtschaft

Strauss-Kahn hatte in der Eurokrise eine Schlüsselrolle inne. | Christine Lagarde könnte auch Nicht-Europäer überzeugen. | Washington. Der alte Kontinent wird es schwer haben, seinen Anspruch auf den Chefsessel des Internationalen Währungsfonds (IWF) weiterhin geltend zu machen. Es werde nicht leicht, einen Europäer zu finden, der weltweit akzeptiert wird: "Das müsste schon ein sehr, sehr starker Kandidat sein", sagt Simon Tilford, Chefökonom der Londoner Denkfabrik Centre for European Reform, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". | Anwalt: 'Nichts war einvernehmlich'


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Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde könnte dieses nötige Ansehen unter Nicht-Europäern genießen. Allerdings gibt es Vorbehalte, nach Jacques de Larosière, Michel Camdessus und Dominique Strauss-Kahn die Fonds-Spitze abermals französisch zu besetzen.

Strauss-Kahns Tage als IWF-Chef sind unterdessen gezählt: Die USA, das nach Finanzanteilen und Stimmen mächtigste der 187 Mitgliedsländer, sind vom Franzosen abgerückt. "Offensichtlich" sei Strauss-Kahn momentan nicht in der Lage, den IWF zu lenken, sagte US-Finanzminister Timothy Geithner. Er will eine offizielle Übergangslösung: "Da passiert gerade eine Menge in der Welt, und da möchte man, dass der Währungsfonds hilfreich ist", so Geithner. Bis dato hat IWF-Vize John Lipsky, ein US-Amerikaner, lediglich die Agenden von Strauss-Kahn übernommen.

"Es gab Widerstände"

Eine europäische Integrationsfigur wäre unterdessen wichtig, weil Strauss-Kahn in der Euro-Schuldenkrise eine zentrale Rolle gespielt hat: "Er hat es ermöglicht, dass die Widerstände im IWF gegen ein Engagement in der Eurozone überwunden wurden", sagt Tilford. In Washington habe es große Vorbehalte gegeben, sich in der EU, einem wohlhabenden und stabilen Teil der Welt, der nicht einmal als Ganzes in der Krise steckt, an Hilfsprogrammen zu beteiligen. Überdies hätten Skeptiker im IWF von Anfang an gewarnt, dass die Rettungspakete für Griechenland und Co. nicht funktionieren würden. "Auch hier hat Strauss-Kahn seinen persönlichen Einfluss in die Waagschale geworfen."

Und nicht zuletzt habe er es einige Male geschafft, die Deutschen auf einen europäischen Kurs einzustimmen. "Er hat, wenn sie so wollen, das Führungsvakuum im IWF ausgefüllt."

Der Fonds steckt selbst in einem großen Umbruch - und der hat lange vor dem Sex-Skandal um Strauss-Kahn begonnen.

Ein Lehman-Effekt droht

Der IWF zählte zwar einerseits zu den institutionellen Gewinnern der "Großen Rezession": Er konnte sich in der Krise seinen Ruf als Finanzfeuerwehr zurückerobern und kehrte dafür von alten, teilweise überholten Dogmen ab. Dieser Kurswandel sei nicht zuletzt mit Strauss-Kahn verbunden, sagt Tilford. Zuvor eilte dem IWF der Ruf eines westlichen Klubs voraus, der widerwilligen und rückständigen Ländern neoliberale Wirtschaftsregeln aufzwingt: Sparen, Deregulieren, Privatisieren. Diese Grundsätze, "Washington Consensus" genannt, hatte Strauss-Kahn erst im April in einer vielbeachteten Rede in Zweifel gezogen. Unter seiner Führung erhielt der Fonds überdies mehr finanzielle Feuerkraft.

Andererseits hatte der IWF selbst die dräuende Finanzkrise nicht rechtzeitig erkannt. Unter Strauss-Kahn wurde zumindest die Aufarbeitung der Fehler vorangetrieben und Platz für Selbstkritik geschaffen. Die Suche nach einer neuen, stabilen Finanzordnung sieht Tilford nun auch als Hauptaufgabe. Daneben werde sich der künftige geschäftsführende Direktor - ob Europäer oder nicht - in jedem Fall mit der Euro-Schuldenkrise auseinandersetzen müssen. "Schließlich könnte eine unkontrollierte Pleite einen Effekt wie nach Lehman Brothers auslösen - und das würde alle Staaten betreffen", so Tilford.

Daneben wird die Machtbalance zur größten Herausforderung: Schwellenländer wie China, Brasilien und Indien geben sich nicht damit zufrieden, dass sie im Oktober 2010 beim G20-Gipfel in Seoul etwas mehr Stimmrechte erhalten haben. Entsprechend den neuen Machtverhältnissen in der Weltwirtschaft stellen sie nun den Anspruch auf den Chefsessel.

Kommt der nächste IWF-Chef aus Asien oder Südamerika? Die "alten" Regenten, die G8-Staaten, können sich schon nächste Woche - bei ihrem Gipfel im französischen Deauville am 26. und 27. Mai - dagegen in Stellung bringen.