Regisseur Alessio Genovese über seinen Film "The Last Frontier", in dem er italienische Anhaltezentren für Flüchtlinge als kollektive Bestrafungsmaschinerie anprangert.
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Wien. "Wenn sie sich mal frei bewegen können, wer kann sie dann stoppen?" Die wild gestikulierende Sicherheitschefin eines italienischen Flughafens blickt bei einer Schulung zu Kontrollmaßnahmen in drei ernste Gesichter. Was davon die Folge sei? "Wir können sie nicht mehr kontrollieren", antwortet ein Mitarbeiter wie ein Schulbub im Klassenzimmer und wird sogleich gelobt. "Richtig. Ihr seid die Barrikaden!"
Es ist die Anfangsszene aus dem Dokumentarfilm "EU 13 - The Last Frontier", der im Dezember auf dem Internationalen "This Human World" Filmfestival 2014 in Wien zu sehen war. Filmemacher Alessio Genovese hat gemeinsam mit Journalistin Raffaella Cosentino ein beklemmendes Bild über das fatale System der sogenannten "Identifikations- und Abschiebezentren" (CIE) für Flüchtlinge in Italien gezeichnet.
Als "Gäste" werden die Insassen der mit meterhohem Stacheldraht umzäunten Lager bezeichnet, und doch deutet alles mehr auf Gefängnis hin. Weitgehend vor den Augen der Medien und Gesellschaft weggesperrt, fristen hier Menschen, deren gemeinsames Vergehen es ist, keine gültigen Aufenthaltspapiere zu haben, ihr Dasein. Meist über einen Zeitraum von 18 Monaten.
Berichte und Fotos gibt es einige wenige. Für die Doku "EU 13 - The Last Frontier" erhielt nun erstmals eine Filmcrew eine Drehgenehmigung für das Innere der Zentren.
"Wiener Zeitung": Im Fokus Ihres Films steht die europäische Identität. Haben Sie das Gefühl, dass die Identität jener, die aufgrund ihrer Flucht nach Europa nur noch als "Flüchtlinge" wahrgenommen werden, in gewisser Weise dekonstruiert wurde?Alessio Genovese: Das ist eine wirklich interessante Frage. Ich glaube, ja. Die Suche nach Identität betrifft uns als Europäer alle. Die Debatte über die Abschiebezentren sollten wir gemeinsam führen, um uns daran zu erinnern, wer wir sind. Und als Orientierungshilfe für eine gemeinsame europäische Identität.
Ist es möglich, eine europäische Identität zu schaffen, während wir gleichzeitig Schutzsuchende und Migranten vor den Toren Europas ausschließen? Wenn doch Migration immer Teil der menschlichen Geschichte war - und sein wird?
Nein, das ist unmöglich. Man kann Migration nicht verhindern oder kontrollieren. Dass wir sie als Problem für unsere Gesellschaft erachten, ist gefährlich. Mit unserer Asylpolitik haben wir zu dem derzeit herrschenden rauen Klima beigetragen. In den letzten Wochen kamen in Italien Beweise an die Oberfläche, wonach die Mafia in Rom mit der Unterbringung von Flüchtlingen Geschäfte macht - Telefonmitschnitte zeigen, dass sie bis ins Stadtparlament vernetzt sind.
Auf Europa-Ebene sehen Politiker und NGOs die Dublin II Verordnung als gescheitert an.
Dublin II ist Teil des Systems und damit Teil der Problematik. Es ist ein System, das Flüchtlinge als potenzielle Gefahr für die Gesellschaft stigmatisiert und alles tut, um sie fernzuhalten. Wir brauchen eine einfache Lösung: europäische Botschaften, die Menschen in Syrien, Libyen, im Irak die Möglichkeit geben, Asyl oder ein Visum zu beantragen anstatt sie in die Hände von Schleppern zu treiben. Wir müssen menschlicher werden.
War das eine Intention Ihrer Dokumentation?
Für mich war es wichtig, die Idee hinter diesen Zentren zu erforschen und gleichzeitig das Bedürfnis nach einer neuen Gemeinschaft zu beleuchten, das Europa beschützen will. Für dieses Ziel, so meine These, sucht Europa nach einem Feind.
Im Film ist ein Mann zu sehen, der seit 28 Jahren in Italien lebt, dort aufgewachsen ist, seine Eltern sind aus Tunesien eingewandert. Das klingt absurd. Wie funktionieren diese Zentren?
Es ist absurd! Die Staatsbürgerschaft erhält man ja nicht automatisch bei der Geburt. Es gibt Leute, die ihren Job verloren haben, in weiterer Folge ihre Papiere. So werden sie zur "irregulären Person" und landen in einem CIE. Nach 18 Monaten erhalten sie einen Bescheid, der sagt, sie müssen Italien innerhalb von fünf bis sieben Tagen verlassen. Nach ein paar Monaten oder Jahren in Deutschland, Österreich oder einem anderen EU-Land werden sie wieder nach Italien abgeschoben - dank Dublin-Verordnung. Es ist ein sinnloser Teufelskreis. Die Behörden gaukeln uns vor, die Zentren seien zu unserem Schutz da. Der Film soll zeigen, dass eine moderne und gesunde Gesellschaft solche Einrichtungen nicht braucht.
Wieso sind Behörden daran interessiert, sie aufrechtzuerhalten?
Es geht um kollektive Bestrafung, auch wenn sich nur ein Prozent aller als irregulär ausgewiesenen Migranten Italiens in einem CIE befindet. Einige von ihnen sind schon drei Jahre in diesem Teufelskreis gefangen. Für mich repräsentieren sie das Scheitern des italienischen Wohlfahrtssystems. Wir sprechen immerhin über Menschen, die über einen langen Zeitraum in Italien gelebt haben, Steuern gezahlt haben und Teil der Gesellschaft waren. Offiziell heißt es, die Zentren seien notwendig, um Migrationsströme zu stoppen. Was wir herausgefunden haben: 80 Prozent der Insassen haben ihre Papiere verloren. Es ist ein Film über Menschen ohne Dokumente und das wahre Gesicht von Grenzen.
Sie haben sich ja erkämpft, was andere vor Ihnen nicht erreichten: eine Drehgenehmigung. War es schwierig, sie zu bekommen?
Wir haben direkt und lange mit dem Innenministerium verhandelt und haben eine sechsmonatige Drehzeit angefragt. Dort hat man gelacht - so wie Sie jetzt! Der Kompromiss war der Besuch von drei Zentren, wo wir je-
weils drei Stunden an zwei Tagen bleiben durften. Macht unterm Strich ein Filmmaterial aus 18 Stunden.
Gab es seitens der Behörden irgendwelche Auflagen oder Einschränkungen ?
Ja, wir durften nicht in den Zimmern der "Gäste" drehen. Getan haben wir es trotzdem. (lacht)
Seit zehn Jahren berichten Sie über die Flüchtlingssituation in Libyen, Afghanistan, dem Irak. In wiefern hat Sie ihre Arbeit und die Erlebnisse dort beeinflusst - auch in Bezug auf Ihre eigene Identität?
In meiner Heimatstadt Trapani wurde das erste CIE eröffnet - das war 1998. Nach einem Jahr, am 18. Dezember 1999 sind bei einem Brand sechs Menschen ums Leben gekommen. Das war mein erster Kontakt mit einem CIE. Zwischen 2004 und 2010 habe ich im Mittleren Osten und Nordafrika gearbeitet. Nach meiner Rückkehr vor vier Jahren musste ich mein Heimatland neu entdecken. Diese Zeit im Ausland half mir sehr dabei, Italien als Grenzland vor Europas Toren zu verstehen.
Was haben Sie für sich von den Dreharbeiten mitgenommen?
Viel! Die Menschen waren froh über unsere Anwesenheit, sie wollten ihre Geschichte erzählen. Ein Insasse, der am Ende des Films zu Wort kommt - wir haben ihn "Philosoph" genannt -, schreibt gerade ein Buch über seine Lage. Der Film hat sein Leben verändert und ihm Hoffnung gegeben, das freut uns wahnsinnig.
Zur Person:
Alessio Genovese,
italienischer Filmemacher (33), bereiste zwischen 2004 und 2010 den Mittleren Osten und Nordafrika, wo er an Projekten in Flüchtlingslagern in palästinensischen Gebieten, dem Libanon, in Syrien und dem Irak arbeitete. Sein 2013 entstandener Dokumentarfilm "EU13 - The Last Frontier" war auf mehreren Filmfestivals zu sehen.
"EU13 - The Last Frontier" (Facebook-Seite)