Am Ende soll eine "Erklärung über die Zukunft Europas" stehen, das weiß man schon vor Beginn des EU-Gipfels, der morgen und übermorgen in Laeken bei Brüssel stattfindet. Die Reformmaschine der Europäischen Union soll weiter angekurbelt werden - über dieses Ziel sind sich die 15 Mitgliedstaaten einig, über den Weg dahin weniger. Freiwillig will keine der EU-Institutionen Macht und Einfluss abgeben. Die Vorschläge für die zukünftige Ausgestaltung der Union reichen von einer eigenen Regierung und der Direktwahl des Kommissionspräsidenten bis zu einer EU-Verfassung und einer Föderation der Mitgliedstaaten. Wie weit werden sich die europäischen Staats- und Regierungschefs an diesem Wochenende nach vor wagen?
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,,Die Türen und Fenster des Europäischen Gebäudes müssen geöffnet werden, es muss über alles diskutiert werden", gibt sich der belgische Regierungschef, Guy Verhofstadt, ambitioniert. Der amtierende EU-Ratspräsident will "mehr Transparenz in der EU" erreichen. Demokratische Reformen sollen letztlich auch skeptische Europäer von der Union überzeugen. Einen Entwurf zur "Erklärung über die Zukunft Europas" gibt es bereits. Darin führt der belgische EU-Vorsitz als Reformpunkte an: die Klärung der Zuständigkeiten der Union und der Rolle der nationalen Parlamente, weiters die Vereinfachung der Verträge und den Status der Grundrechtecharta.
"Work in progress"
Die vier Reformpunkte sind ein umfassender Ansatz, um die Erklärung von Nizza abzudecken. Das Beste an der EU-Vertragsrevision von Nizza im Dezember 2000 sei gewesen, "dass gleich ein Post-Nizza-Prozess vereinbart wurde." Diese mit einer Portion Zynismus ausgesprochene Feststellung ist zum geflügelten Wort bei kritischen Europapolitikern geworden. Die Entwicklung der EU, die Europäische Integration ist ein "work in progress". Notwendig ist die neuerliche Institutionenreform, damit die EU die nun geplante, groß angelegte Erweiterung überhaupt verkraftet. 13 Länder klopfen derzeit an die Tür der Union aus 15 Staaten. Zu Beginn, als die Gemeinschaft aus sechs Staaten gebildet wurde, seien die Strukturen ausreichend gewesen. "Aber jetzt müssen die Strukturen geändert werden", betont Kommissionspräsident Romano Prodi.
Kompetenzen abgrenzen
Die Kompetenzen der EU und der Mitgliedstaaten sollen besser abgegrenzt werden. Denn bei den Bürgern herrsche der Eindruck, dass die Union in Bereichen zu viel tue, in denen ihr Eingreifen verzichtbar wäre. Deshalb müsse die Abgrenzung von Kompetenzen klarer und einfacher gemacht und nötigenfalls auch angepasst werden, heißt es in Belgiens Reformentwurf.
Zur Diskussion stehen die nationalen Vetorechte im Ministerrat. Die Vetos sollen gestrichen werden, d.h. an die Stelle des Einstimmigkeitsprinzips würden die Mehrheitsentscheidungen treten. Die EU-Kommission hat ausdrücklich die "Gemeinschaftsmethode" hervorgehoben. "Diese Methode, die auf dem erprobten und bewährten Gleichgewicht zwischen den wichtigsten europäischen Institutionen - Kommission, Rat und Parlament - beruht, wird unerlässliche Voraussetzung für mehr Demokratie und Leistungsfähigkeit in einer erweiterten Union sein." Doch sind die jetzigen EU-Länder selbst auf ihre Nationalstaatlichkeit sehr bedacht.
Die verschiedenen Vertragsrevisionen zu Gunsten von mehr Transparenz zu vereinfachen ist bereits ein seit langem gehegtes Ansinnen. Nun hat die Kommission vorgeschlagen, die grundlegenden Bestimmungen der Verträge herausarbeiten zu lassen und dann zu einem Grundlagentext zusammen zu fassen. Teil des vereinfachten Grundlagenvertrages sollte die Grundrechtecharta sein.
Um die EU demokratischer zu machen, wird auch eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch die Europaabgeordneten oder sogar direkt durch die Bürger angedacht. "Dazu müssen die Kandidaten hinreichend bekannt sein", wendet Prodi ein. Im Moment wird der Kommissionspräsident in internen Verhandlungen von den Staats- und Regierungschefs der EU (dem "EU-Rat") bestimmt. Vor einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten müssten erst noch viele andere Schwierigkeiten gelöst werden, so Prodi. Jeder Mitgliedstaat würde sich einem Kandidaten verbunden fühlen. Die Frage stehe jedenfalls nicht ganz oben auf der Tagesordnung.
Langfristig soll sich die Europäische Union eine eigene Verfassung geben. Ein erster Schritt wäre die rechtsverbindliche Verankerung der Grundrechtscharta in den EU-Vertrag - was jedoch schon in Nizza gescheitert ist. Zuletzt haben sich ausgerechnet die beiden Großen in der EU, Deutschland und Frankreich, für eine europäische Verfassung ausgesprochen, um der europäischen Einigung neue Impulse zu geben. Voraussetzung wäre freilich, dass sich die Mitgliedsländer zu einem Staatengebilde zusammen schließen. Als Optionen wurden in der Vergangenheit ein Staatenbund und ein Modell von Bundesstaaten wie in den USA diskutiert. Das amerikanische Beispiel ist für den französischen EU-Regionenenkommissar Michel Barnier keinesfalls ein Vorbild. "Wir wollen ein vereinigtes, kein vereinheitliches Europa", betonte er bei seinem Wien-Besuch. Barnier führt vor allem die kulturelle und die sprachliche Vielfalt Europas ins Treffen, die erhalten bleiben müssten. "Kein Superstaat, sondern eine Union von Nationalstaaten", lautet auch die Losung in London. Großbritannien, das sich langsam aber sicher zunächst auf ein Referendum über die Einführung der Gemeinschaftswährung vorbereitet, lehnt jede Maßnahme ab, die zu sehr in die Richtung eines föderalen Europa geht.
Wie viel Nationalstaatlichkeit verträgt Europa?
Was die Rolle der nationalen Parlamente in der EU betrifft, könnte eine zweite Kammer des Europäischen Parlaments eingerichtet werden. Belgien hat hier einen Vorschlag von Deutschlands Außenminister Joschka Fischer aufgegriffen. In der Tat sieht sich so mancher Abgeordneter zum EU-Parlament mit dem Vorwurf aus der Heimat konfrontiert, sobald er in Straßburg oder Brüssel sitze, vertrete er allzusehr europäische und weniger nationale Interessen. Und die direkt gewählten Europaabgeordneten selbst kämpfen, allein auf weiter Flur, für mehr Mitspracherechte in der EU. Die Zusammenarbeit zwischen dem EU-Parlament und den nationalen Parlamenten müsse jedenfalls intensiviert werden, fordert ÖVP-EU-Abg. Othmar Karas. Das EU-Parlament sollte "als parlamentarische Kontrolle der Kommission eng mit den nationalen Parlamenten als Kontrollinstanzen ihrer Regierungen zusammen arbeiten".
"Zuviel Brüssel"
Die nun angepeilten EU-Reformen sollen in einer neuerlichen Regierungskonferenz (wie schon vor dem Nizza-Vertrag) spätestens Anfang 2004 finalisiert werden. Ausarbeiten soll die Reformvorschläge ein Konvent. Und das ist zunächst der größte Streitpunkt. Offen ist vor allem, wie verbindlich die von diesem Reformgremium präsentierten Vorschläge für die Regierungskonferenz sein werden. Der Grüne EU-Abg. Johannes Voggenhuber hat bereits mehrfach vor einer "Verwässerung" des Konvents gewarnt. Geht es nach den Vorstellungen der Mitgliedstaaten soll der Konvent Optionen ausarbeiten, aus denen die Regierungschefs dann auswählen können. Damit werde der Konvent zu einer "erweiterten Arbeitsgruppe" mit "demokratischer Alibi-Funktion" degradiert, warnt hingegen Voggenhuber. Das EU-Parlament wünscht sich, dass dem Konvent - wie schon bei der Ausarbeitung des europäischen Grundrechtekatalogs auch - weitgehend die Vorarbeiten für die Regierungskonferenz übertragen werden. Genau dagegen wehrt sich insbesondere Großbritannien. In einem vergangene Woche verabschiedeten Memorandum des Foreign Office werden "Serien von Vorschriften" abgelehnt. Einer Diskussion über "fundamentale Fragen" über die Zukunft der Europäischen Union stimmt Großbritannien aber zu.
Streitpunkt Konvent
Die Arbeitsweise des Konvents soll verhindern, dass Reformen von den Regierungen so wie bisher hinter verschlossenen Türen beschlossen werden. Entscheidend ist daher die personelle Zusammensetzung des Gremiums, das auf einer möglichst breiten Basis arbeiten soll. Im belgischen Vorschlag sind neben dem Präsidenten 62 Mitglieder vorgesehen: 15 Vertreter der EU-Mitgliedstaaten, 30 Abgeordnete der nationalen Parlamente, 16 Mitglieder des Europaparlaments und ein Vertreter der EU-Kommission. Das EU-Parlament hat mit Blick auf die Erweiterung zudem gefordert, auch die Kandidatenländer in die Reformgruppe einzubeziehen und ihnen je eine Stimme zu geben.
Der Konvent soll beim morgen beginnenden EU-Gipfel in Laeken nicht nur formell beschlossen werden. Auch über den Vorsitzenden muss entschieden werden. Namen wurden dazu mehrere genannt: der ehemalige italienische Ministerpräsident Giuliano Amato, der niederländische Ministerpräsident Wim Kok sowie zwei Franzosen, Ex-Präsident Valéry Giscard d´Estaing und Ex-Kommissionspräsident Jacques Delors. Die besten Chancen, dem Konvent vorzustehen, hat Delors - zumal auch schon Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder seine gewichtige Stimme für einen französischen Kandidaten erhoben hat. Bereits im März kommenden Jahres soll der Konvent seine Arbeit aufnehmen. Bis Juni 2003 soll er die Ergebnisse vorlegen, so dass die Regierungskonferenz Ende 2003, spätestens Anfang 2004 - rechtzeitig vor den nächsten EU-Wahlen im Juni 2004 - die Reformen beschließen kann.
Diskutiert werden wird in Laeken auch die künftige gemeinsame Verteidigungspolitik. In der Außenpolitik spricht die Union nach wie vor nicht mit einer Stimme. Die erste "physische Identität" der EU werden die Bürger demnächst mit dem Euro in Händen halten.