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Europa und seine Scheu vor Strategien: Fehlender Mut und faule Kompromisse

Von Hermann Sileitsch

Analysen

Irgendwer hat kalte Zehen: Egal, wer in welche Richtung zieht, die Tuchent ist auf jeden Fall zu kurz. So ließe sich sehr österreichisch das Dilemma der Wirtschaftspolitik (auch als "magisches Viereck" bekannt) formulieren. Dieses besagt, dass die Hauptziele - nämlich Beschäftigung, Wachstum, Preisstabilität und ausgeglichene Außenwirtschaftsbilanz - nicht oder nur unvollständig zur gleichen Zeit erreicht werden können. Genau diese Zielkonflikte prägen auch die Debatten über die künftige Langzeitstrategie der Europäischen Union ("Europa 2020").


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Das Papier der Kommission ist offiziell noch gar nicht auf dem Tisch, da greifen schon die nationalen Automatismen und die Mitgliedstaaten zerpflücken es in seine Einzelteile. Europa gibt einmal mehr das Bild von Einzelkämpfern ab, die Eigeninteressen verfolgen. Und das in einer Zeit, wo Investoren (vulgo "Spekulanten") die Zentrifugalkräfte mit weidlich ausnützen, indem sie auf ein noch stärkeres Auseinanderdriften der europäischen Ökonomien wetten.

Ungeachtet dessen, dass ein geeintes Auftreten der beste Schutzschild gegen die Attacken wäre, liefern Berlin und London die gewohnten Querschüsse: Die Briten tun, als ginge sie eine EU-Wirtschaftsstrategie überhaupt nichts an. Die Deutschen sehen wieder einmal die Stabilität des Euro in Gefahr: Sie wollen den "Stabilitäts- und Wachstumspakt" (wieder so ein Zielkonflikt) für den Euro und die wirtschaftliche Langfriststrategie der EU strikt auseinanderhalten. Die Antwort, warum die Gemeinschaftswährung bedroht sein sollte, wenn die Mitgliedstaaten wirtschaftspolitisch stärker an einem Strang ziehen, blieb Berlin bis dato allerdings schuldig.

Schließlich ist genau das Gegenteil ist der Fall: Soll die Eurozone nicht erneut an den Rand des Auseinanderbrechens geführt werden, muss die EU dringend Antworten auf die Probleme von Griechenland und Co finden. Und natürlich kann dabei die Fiskalpolitik nicht losgelöst von Wachstumszielen betrachtet werden. Dabei läuft die Europäische Zentralbank nicht gleich Gefahr, nach der Pfeife von Brüssel oder Paris tanzen zu müssen (das ist wohl die Hauptsorge in Berlin).

Die Reaktionen auf "Europa 2020" lassen befürchten, dass hier zum wiederholten Mal ein Europa-Thema von existenzieller Bedeutung zerredet und auf einen Minimalkompromiss zerpflückt wird. Dabei sollte die "Lissabon-Strategie", die vorangegangene EU-Wirtschaftsstrategie, als mahnendes Beispiel ausreichen: Deren Ziele wurden allesamt glatt verfehlt, weil ihnen entweder die Verbindlichkeit oder der Hebel zur Durchsetzung gefehlt hat. Die Vorgabe, die EU bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen, kann heute bestenfalls als Lacherfolg gewertet werden.

Siehe auch:Hellenen müssen ihre Probleme ohne Hilfe aus Europa meistern