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Seit Monaten sind Straßen und Häuser hier in Großbritannien mit "Leave" oder "Remain" Plakaten zugepflastert, seit Wochen drehte sich die Rhetorik beider Kampagnen jedoch leider nur mehr um eines: Furcht. Immer und immer wieder wurde den Menschen in den High Streets der britischen Städte vorgesagt, dass ihr Land verkauft und verspielt worden sei. Kein Wunder, dass es zumindest 51,9 Prozent nun zurückhaben wollen. Wo die Angst regiert, stößt der Verstand an seine Grenzen. Wo die Irrationalität herrscht, kann nicht "frei und fair" gewählt werden. Diese Unzulänglichkeit des demokratischen Systems hat sich im EU-Referendum erneut klar offenbart.
Uns Europäern, die wir hier in Großbritannien leben, ist heute mehr denn je zuvor die Enge dieser kleinen Insel klar geworden. Nur hier, auf der Insel, müssen wir uns den kuriosen, hochentwickelten Regeln der britischen Zivilisation unterwerfen. Nur hier müssen wir uns aufgrund des überzogenen englischen Schamempfindens immer wieder durch die peinlichsten zwischenmenschlichen Zwickmühlen manövrieren oder gar ein Problem mit einer Tasse Tee hinunterspülen: "Tea", sagt eine alte Englische Volksweisheit, "makes everything better." Emotionen werden sofort ertränkt, und vom echten Menschsein wird man beständig mit Banalitäten wie dem Wetter abgelenkt. Dennoch lieben wir dieses graue Land und seine Bewohner auf eine kuriose, ja fast unterwürfige Art und Weise. Wir Europäer wollen ein Teil von ihnen sein - und vielmehr noch, wir wollen, dass sie das auch wollen.
Die Schwelle zum Brexit war absurd niedrig angesetzt
Seit dem Referendum haben wir jedoch Gewissheit über unsere schlimmsten Befürchtungen: Die Menschen hier sind Briten, Engländer, Commonwealth-Bürger, Weltbürger, aber eben nur ungern Europäer - zumindest 51,9 Prozent der Wahlberechtigten und jener, die unter diesen auch zur Wahl gegangen sind. Setzt man diese Zahl nun in Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung von 70 Prozent, dann kommen die "Leave"-Wähler insgesamt nur auf 36 Prozent, dennoch haben sie aber das Referendum gewonnen. Mit einer einfachen Mehrheit war die Schwelle zum Brexit absurd niedrig angesetzt - eine weitere, nun offensichtliche Unzulänglichkeit von Demokratie.
Das Votum hat uns dennoch alle persönlich tief ins Herz getroffen. Uns, die wir doch hier sind, weil wir an Europa nicht nur glauben, sondern es auch leben. Heute fühlen wir uns zurückgestoßen, gekränkt, ungeliebt. Ist die Ehrenbeleidigung aber einmal überwunden und sind wir tatsächlich die "echten" Europäer, die wir vorgeben zu sein, dann sollten wir uns doch gerade jetzt freuen, anstatt uns weiterhin beständig an Großbritannien anzubiedern: Ohne Briten können wir nun endlich die Europäische Integration schaffen, von der wir immer geträumt haben. Wir können die EU, die - man mag es fast vergessen haben - immer noch 27 andere Mitgliedstaaten hat, jetzt in eine politische Gemeinschaft verwandeln, die weit über einen gemeinsamen Markt hinausgeht.
Während die Debatte auf der Insel sich nun mehr um Pfund und britische Wirtschaft dreht, sollten wir die Gelegenheit nutzen und uns an die eigentliche Gründungsmotivation der Europäischen Gemeinschaft erinnern: Diese war Frieden und nicht das Geld. Man hat Kohle und Stahl unter eine gemeinsame Behörde gestellt, nicht um mehr zu verdienen, sondern um weniger zu zerstören. Nur Frieden schafft Wohlstand, darin waren sich alle Gründungsväter einig. Heute haben wir beides, hier in Großbritannien und hier in Europa. Die Mehrheit der britischen Wähler hat leider bloß vergessen, dass Frieden nicht selbstverständlich und Wohlstand nur dann Wohlstand ist, wenn er geteilt wird. Die Stimme des Volkes hat gesprochen, bevor sie nachgedacht hat. Eine weitere der zahlreichen Unzulänglichkeiten des demokratischen Systems. Tee macht also am Ende doch nichts besser.