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Europäische Herzensangelegenheit

Von Philipp Jauernik

Gastkommentare

Österreichs Weg zurück ins vereinte Europa dauerte lange. Bei der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 zeigte die Bevölkerung aber unerwartet deutlich den Wunsch nach Zukunft und Miteinander.


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Wie selig ist doch des Menschen Erinnerung! Sie lässt grausame Dinge verblassen und die schönen stärker in den Vordergrund treten. Die Verklärung der Rückschau führt dazu, dass das schöne Gefühl an "früher" überhaupt möglich wird - und gleichzeitig auch, warum vor allem Zukunftsszenarien mit Angst verbunden sind. Anders gesagt: Früher war zwar nicht alles besser, aber da wir den Ausgang kennen, ist es nicht so erschreckend.

Wer erinnert sich noch an Blut in Schokolade und Läuse im Joghurt? Beides waren Schauermärchen, was Österreichs Konsumenten an Schrecklichkeiten erwarten würde, kaum dass sie im gemeinsamen Markt gezwungen wären, plötzlich nur noch ausländische Produkte zu kaufen. Im dunklen Szenario der nationalen Protektionisten hätte es bald nur noch Importware in den Supermärkten gegeben, aber keine guten rot-weiß-roten Produkte mehr.

Diese Anti-EU-Propaganda der frühen 1990er zeigt zwei Dinge auf: Erstens müssen Populisten wahrhaft kreativ mit der Wahrheit umgehen, um die EU wirklich als negative Sache dastehen zu lassen. Zweitens haben insbesondere Nationalisten ein sehr trauriges Menschenbild. Gerade im freien Markt liegt jede Kaufentscheidung beim Konsumenten selbst. Davor zu warnen, dass Läuse oder Chlorhühner zur Bedrohung werden könnten, spricht den heimischen Konsumenten ab, eigenverantwortlich urteilen zu können.

Früher Blut und Läuse, heute Gurken und Energiesparlampen

Nein, an Läuse und Blut denkt kaum noch jemand. Die Erinnerung an sie ist verblasst. Heute sind es Gurkenkrümmung und Energiesparlampen, an denen sich der Zorn entzündet. Dabei interessiert sich kaum jemand dafür, dass es auch schon zuvor in allen Mitgliedstaaten der EU Verordnungen zur Gurkenkrümmung und natürlich auch überall Vorschriften und Normierungen von Leuchtkörpern gab.

Der Kopf kann über diese Sachfragen hervorragend debattieren - aber die Herzen werden davon niemals erreicht werden. Nun geht es hier aber doch um eine Herzensangelegenheit. So unzufrieden man etwa in Kärnten oder Salzburg mit dem Bund sein mag, ein Austritt aus dem Gesamtstaat Österreich würde nie angedacht. Viel zu selbstverständlich gehört man zusammen, hat die rot-weiß-rote Trikolore als Identitätsbestandteil. Anders verhält es sich da mit einem Austritt aus der Europäischen Union. Zwar würde den nur eine sehr geringe Minderheit als Ziel bezeichnen (die Minderheit ist so klein, dass sie nicht einmal bei der EU-Wahl antreten konnte), doch die Zahl jener, die damit kokettieren und unter dem Etikett "Euroskeptizismus" zumindest nicht konstruktiv an Verbesserungen arbeiten, ist deutlich größer.

Europäische Einigung als geostrategische Notwendigkeit

Dabei legen diese Skeptiker fallweise sogar den Finger in real existierende Wunden. Es ist ja wahr: Bis heute ist die EU weder perfekt noch nahe daran, es zu sein. Wer aber die globale Perspektive sieht, begreift sehr schnell, dass die europäische Einigung keine handlungspolitische Option, sondern eine geostrategische Notwendigkeit ist. Eine reine Freihandelszone würde keineswegs ausreichen. Europa muss ganz andere Antworten liefern, als sie es könnte.

Dass die Union diese Antworten vor allem dann nicht lieferte, als es dringend nötig war (der Sommer 2015 sei in Erinnerung gerufen), ist ein schmähliches Versäumnis und zeigt, dass wir eine viel klarere sicherheitspolitische Architektur brauchen. Regional haben wir gut antworten können. Sowohl das Schließen der Balkanroute als auch die Versorgung der Ankömmlinge haben funktioniert.

Doch heute kommen die Flüchtlinge über die spanische Küste. Darauf können Österreich und seine unmittelbaren Nachbarn nicht mehr regional antworten. Dafür bräuchte es eine Institution auf europäischer Ebene, die auch die Handlungskompetenzen und die dafür benötigten Einsatzeinheiten hat. Bisher ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex ein reiner Apparat aus Verwaltungsbeamten. Das sind Bürojobs, keine Grenzsicherer. Für mehr war Frontex nie ausgestattet. Es sind die EU-Mitgliedstaaten, die das Mandat dafür erweitern und ihr Okay für Finanzierung, Aufstellung und Ausrüstung der echten Einheiten geben müssen. Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft 2018 hat sehr viel in diese Richtung bewegt, das nun auch in Bewegung kommt und einen echten Beitrag zur Grenzsicherung leisten kann.

Wir brauchen Europa für den zentralen Bereich Sicherheit

Sicherheit ist ein zentraler Bereich, wofür wir Europa brauchen: militärisch-polizeilich, aber auch in vielen anderen Bereichen. Sicherheit bedingt Stabilität und umgekehrt, auch wirtschaftlich und sozial. Das Programm für den gemeinsamen Markt, den EU-Binnenmarkt, kann nur als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. . Jede einzelne Zahl, die aus den statistischen Erhebungen ablesbar ist, belegt den Fortschritt und die Wohlstandsmehrung, die uns das Miteinander gebracht hat. Digitalisierung, Bildung, Wachstum, Regionalität, Harmonisierung, Sicherheit - die Rolle einer funktionierenden Union ist in jedem dieser Fachbereiche eine andere. In manchen muss die EU-Ebene mehr alleine entscheiden können, in anderen brauchen wir sie weniger stark. Daher ist der Begriff "Subsidiarität" unbedingt zu ergänzen.

Die vielbeklagte "Regulierungswut Brüssels" ist nicht selten in Wahrheit die Harmonisierung nationaler Vorschriften. Ohne jeden Zweifel täten beide Ebenen - EU und Nationalstaaten - gut daran, diese Vorschriften auf Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Wie viel davon muss sein? Gestehen wir unseren Bürgern mehr Entscheidungsfreiheit zu? Es steht außer Zweifel, dass eine Bürokratiereduktion das Gebot der Stunde ist.

Beitritt 1995 als Rückkehrins vereinte Europa

Die Volksabstimmung am 12. Juni 1994 hat gezeigt, dass Österreichs Bevölkerung weltoffen und europäisch tickt, ganz so, wie es der Geschichte unseres Landes entspricht. Aktuelle Stimmungsbilder zeigen ebenfalls hohe Zustimmungsraten zur Union, wenn auch nicht ohne die berechtigte Kritik an jenen Dingen, die verbessert gehören.

Der österreichische EU-Abgeordnete Lukas Mandl hat zum Jubiläum einen Sammelband herausgegeben. Die zuvor angerissene thematische Breite und die To-Do-Liste für die EU-Ebene waren sichtlich Leitlinien für die Auswahl der Beiträge. Der Titel "Rot-Weiß-Rot in Europa" verweist durchaus darauf, dass auch die gesamte Geschichte Österreichs als Binnenstaat, als Nicht-Nationalstaat im Sinne des Nationalismus des 19. Jahrhunderts, als Vielvölkerstaat auf das europäische Miteinander hindeutet.

Österreich ist ein europäisches Land. Deshalb war der Beitritt 1995 auch die Rückkehr ins vereinte Europa, nicht der "Erstbeitritt". Die Beiträge des Sammelbandes leisten einen wertvollen Beitrag dazu, das Geistesbild unseres Heimatlandes und Heimatkontinents besser zu beschreiben. Es ist daher das richtige Buch zur richtigen Zeit.•