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Kopenhagen - In großen Dingen bewegt sich die Europäische Union in Evolutionssprüngen vorwärts, die so unausweichlich angelegt sind, dass sie kaum noch ein Staunen hervorrufen. Die Erweiterung nach Osten ist so ein Sprung, für den keine Feuerwerke gezündet wurden, obwohl ihn vor einer Generation noch niemand denken konnte. Die Entwicklung der EU folgt einem Prinzip der Zwangsläufigkeit, das den Bürgern den Eindruck vermittelt, sich wohl oder übel anpassen zu müssen. Der Beitritt von zehn neuen Mitgliedern ist da ein historischer Einschnitt. Der EU-Gipfel in Kopenhagen eröffnete die Debatte über die künftigen Grenzen und die Verfassung der Union.
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Während in Kopenhagen 25 Staats- und Regierungschefs mit Champagner anstießen und sich Zeitungen mit Metaphern für die Erweiterung überschlugen, fanden in Europa weder spontane Massenkundgebungen noch Volksfeste statt. Anders war es auch 1995 nicht, als die Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Ländern verschwanden, oder dieses Jahr, als der Euro in Umlauf kam. Zwar beklagen Politiker in Verantwortungspositionen regelmäßig die mangelnde Beteiligung der Bürger am europäischen Projekt. Doch nur in Ausnahmefällen fragen sie vorher nach, bevor sie die Voraussetzungen für die nächste Entwicklungsstufe schaffen. Die Eigendynamik der europäischen Zusammenarbeit ist System.
Europäische Kriege und Massenmorde Vergangenheit
Aus historischer Sicht ist auf diese Weise ein Raum des Friedens und des Wohlstandes geschaffen worden, in dem künftig 455 Millionen Menschen leben werden. Die europäischen Kriege und Massenmorde der vergangenen Jahrhunderte seien damit endgültig Geschichte, betonten der britische Premierminister Tony Blair und der französische Präsident Jacques Chirac in Kopenhagen. Was die Zukunft angeht, sind sich die beiden schon weniger einig. Wie viele Länder noch aufgenommen werden sollen und was dies für die Zusammenarbeit bedeutet, ist eine Frage des Wollens mehr als der historischen Zwangsläufigkeit.
Für EU-Kommissionspräsident Romano Prodi sind die Grenzen erreicht, wenn die Türkei, Bulgarien, Rumänien und die Balkan-Staaten einmal zur EU gehören werden. Den Platz für die anderen Anwärter sieht er in einem "Freundeskreis". Sein Landsmann, der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi, macht sich hingegen für ein Groß-Europa mit Russland, Marokko und Israel stark. Norwegen will einen dritten Anlauf für den Beitritt unternehmen. In der Gipfel-Erklärung von Kopenhagen werden die südlichen Mittelmeeranrainer Seite an Seite mit der Ukraine, Moldawien und Weißrussland erwähnt.
Frage nach der künftigen Verfassung der EU
Doch schon mit 25 Mitgliedern wird die EU immer unbeweglicher, wenn nationale Interessen und Eigenheiten auf dem Spiel stehen. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder mahnte auf dem Gipfel deshalb eine tiefer gehende Zusammenarbeit an. Die Diskussion im EU-Konvent über das künftige Verhältnis zwischen nationalen und europäischen Entscheidungsprozessen soll noch vor dem Beitritt der Zehn im Mai 2004 in ein Grundgesetz für die EU münden. Berlusconi strebt für die italienische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2003 eine Art Neuauflage der Römischen Verträge von 1957 an.
Bis dahin hat die EU Gelegenheit, ihre Attraktivität und ihre Schlagkraft zu beweisen. Durch ihr neues Abkommen mit der NATO, für das die letzten Hindernisse in Kopenhagen ausgeräumt wurden, übernimmt sie bald erstmals die Regie für Friedensmissionen auf dem Balkan. In Polen und Tschechien stehen heikle Volksabstimmungen zum Beitritt an. Auch die Bürger der alten Union der 15 gilt es noch zu überzeugen, dass größer besser ist. Denn auf den Straßen von Kopenhagen wurde die Erweiterung am Wochenende nicht gefeiert. Lautstark waren nur die Rufe der Gegendemonstranten: "Nein zur EU, Ja zur Demokratie."