Welche Leitwerte das politische Denken und Handeln der Menschen, Parteien und Epochen bestimmen, zeigt ein Blick in die Kulturgeschichte des Kontinents.
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Was sind Werte? Man kann sie vorläufig definieren als kollektive Leitvorstellungen für unser Denken und Handeln. Alle Menschen haben Werte, nach denen sie bewusst oder unbewusst denken und handeln. Werte haben also auch Steuerungsfunktion. Der Eine stellt Leistungswerte an die Spitze seines Handelns, ein Anderer soziale Werte, ein Dritter religiöse Werte, wieder ein Anderer patriotische Werte.
Vor unserem inneren Auge entstehen sogleich Typen von Menschen, die die einen oder anderen Werte verfolgen. Aus Werten werden ja auch persönliche Haltungen, "Tugenden", generiert: Demut, Mildtätigkeit Disziplin, Leistungsbereitschaft, Vaterlandsliebe - aus jeweils unterschiedlichen Wertefamilien.
Drei Wertefamilien
Natürlich kann man auch politische Parteien nach ihren Werten unterscheiden. Einige haben ja schon ihren Leitwert im Namen, auch wenn sie nicht immer nach deren Maßgabe handeln: "Christlich Demokratische" oder "Christlich Soziale Union", "Sozialdemokratische Partei", mit dem nationalen Zusatz: Österreichs oder Deutschlands. "Liberale Freiheitliche Partei", "Die Grüne Alternative", die "Alternative für Deutschland" u.a.m.
Ganze Epochen unserer Geschichte lassen sich nach den Leitwerten, die sie steuern, definieren: Die griechische Antike mit ihrer Erfindung der Demokratie und des philosophisch-naturwissenschaftlichen Denkens, die römische Antike mit ihrer absoluten Dominanz der Militärtechnik und Verrechtlichung von Konflikten, die mittelalterliche christliche-religiöse Weltordnung, die Neuzeit mit ihrer erneuten Dominanz des naturwissenschaftlichen Denkens, dessen technischer Umsetzung und ökonomischer Nutzung.
Natürlich definieren solche Begriffe nicht die ganze Epoche, sondern eben nur deren Leitwerte. Werte stehen aber immer auch im Verbund mit anderen Werten, verstärken sich wechselseitig, treten aber auch in Konflikt zueinander. Und da beginnt es auch politisch wie historisch interessant zu werden.
Welche Leitwerte bestimmen das politische Denken und Handeln von Menschen, Parteien, Epochen? In welchen Konfliktfeldern mit anderen Werten stehen sie? Natürlich haben politische Werte immer auch eine Propagandafunktion. Sie sollen Reklame machen für die Partei, die sie vertritt. Die Leitwerte einer Partei oder eines Politikers müssen aber nicht notwendig diejenigen sein, die sie auch realpolitisch vertreten. Werte können also auch andere Werte verdecken. Sie können Camouflagefunktion haben.
Gehen wir zunächst auf die Geschichte Europas ein. Werte fallen ja nicht vom Himmel oder stehen dort wie Sterne -, das hat die frühere platonische und auch christliche Wertlehre einmal geglaubt. Werte sind Produkte der menschlichen Kulturgeschichte. Sie entstehen in dieser und prägen diese dann auch. Ich unterscheide im Folgenden drei zentrale Wertefamilien als Leitwerte der europäischen Kulturgeschichte. Ich spreche von Wertefamilien, nicht Systemen. Werte bilden keine streng systematischen Zusammenhänge, stehen eher in einem lockeren Verwandtschaftsverbund. Man sagt ja, der oder jener Wert ist mit diesem "verwandt".
Die drei zentralen europäischen Wertefamilien sind (1) die in der griechischen Antike entstandene Wertefamilie der europäischen Rationalitätskultur, (2) die Wertefamilie der Religion, in Europa speziell der jüdisch-christlichen, und (3) die am spätesten entstandene Wertefamilie des nationalen Patriotismus.
Erfindung des Denkens
Gehen wir zunächst der ersten Wertefamilie nach. Ihr wichtigster Leitgedanke ist die Erfindung des eigenen Denkens. Die griechische Philosophie-Wissenschaft - sie war damals noch eins und ungetrennt - war überhaupt die erste Kulturbewegung in der Geschichte der Menschheit, die den Kosmos, die Welt, nur mit den Mitteln der Rationalität erkennen wollte. Nicht, dass andere Weltkulturen nicht auch eigenständig gedacht hätten. Aber alle Weltkulturen bis zu den Griechen haben die Welt mythisch erklärt, als Werke der Götter oder eines Gottes. Die Griechen haben die Welt aus diesseitigen, erkennbaren "Prinzipien" rational zu erklären versucht: Sie ist aus Wasser, Feuer, Atomen oder Zahlen zusammengesetzt.
Insbesondere die letzte Hypothese - entwickelt von den Pythagoreern - hat die Welt seitdem nachhaltig verändert. Die Griechen gingen daran, den Raum geometrisch zu vermessen, Städte, aber auch Kriegsformationen geometrisch anzuordnen, sie entwickelten die Geldwirtschaft, sie erfanden eine rational-wissensbasierte Kultur - und das ist unsere Leitkultur bis heute geblieben.
Diese war sogar über die Jahrhunderte hinweg so erfolgreich, dass sie heute den Globus beherrscht. Die Welt wird mathematisiert, digitalisiert, computerisiert, roboterisiert, und Europa steht dabei gar nicht mehr in der vordersten Front. Andere Länder wie die USA, Japan, China, Indien haben die einst europäische Leitkultur der mathematischen Naturwissenschaften und Technik übernommen und bilden darin nun vielfach die Avantgarde.
Rationalitätskultur
Die mit der Rationalitätskultur verbundene Wertefamilie - insbesondere das naturwissenschaftliche Denken und dessen technische Umsetzung - definieren auch Standards des Wohlstandes und der Armut in der Welt. Grob und vereinfacht gesprochen: Die nördliche Hemisphäre der Erde mit ihrem hohen Standard an Rationalitätskultur verfügt auch über Reichtum und einen hohen Lebensstandard; andere Kulturen, vor allem in den südlichen Hemisphären, die weniger gut damit zurechtkommen, einen deutlich geringeren.
Eigenes Denken setzt auch neue politische Maßstäbe: Die Griechen haben ihre Tyrannen vertrieben, in den historischen Schlachten von Marathon 490 v. Chr. und Salamis 480 v. Chr. die persische Satrapie aus Griechenland zurückgeschlagen und so die auf dem eigenen Denken und Handeln begründete freiheitliche Demokratie allererst begründet und verteidigt. Weitere Werte der Wertefamilie der Rationalitätskultur sind Toleranz gegenüber Andersdenkenden, die Suche nach Wahrheit, Kritikfähigkeit, Schulung des eigenen Denkens, sprich: Bildung, und damit auch die Bildung der eigenen Persönlichkeit als Leitideen der europäischen Kultur. Schon Perikles hat sie in einer berühmten Rede 431 v. Chr. vertreten. Eine große Leistung vor allem der römische Antike war die Erfindung einer rationalen Rechtsordnung mit Prinzipien und Rechtsformen, die auch heute noch Leitwerte der Rechtsprechung sind.
Wir erleben allerdings in unserer Gegenwart, dass vielfach die Naturwissenschaften und die Technik aus Europa in andere Kontinente übernommen und eigenständig weiterentwickelt werden, nicht aber die Werte der Demokratie, Freiheit, Persönlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Wenn allerdings westliche Politiker und auch Philosophen einfach die westlich gewachsenen Menschenrechte als universal gültig zu proklamieren versuchen, lassen sich das Chinesen, Inder und auch die Arabische Liga immer weniger gefallen.
Auf der ersten europäisch-arabischen Konferenz in Sharm el Sheikh hat sich denn auch der ägyptische Präsident Abd al-Fattah al-Sisi kürzlich entschieden dagegen gewehrt, dass die Europäer ihre Menschenrechte der Arabischen Liga überstülpen wollen. "Ihr habt eure Werte - und wir haben unsere." Dagegen zu argumentieren ist schwierig, wenn man nicht den Vorwurf eines Neo-Wertekolonialismus auf sich ziehen will.
Noch ein Wort zum rationalen Wert der Wehrhaftigkeit: Er hatte einen hohen Stellenwert in Europa bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, verlor dann aber immer mehr an Bedeutung, besonders nach dem Ende des "Kalten Krieges" 1989. Es scheint aber so, dass wir gegenwärtig wieder eine Renaissance dieses Wertes erleben. Die völlig marode deutsche Bundeswehr etwa verlangt nach besserer Ausrüstung. Zumindest ist es mit dem Auftauchen des kriegerischen Kalifats IS wieder vorstellbar geworden, dass auch Europa in Zukunft in einen globalen Krieg hineingezogen werden könnte, der mit Drohnen und anderen Kriegsautomaten geführt wird, Europa sich also schlicht verteidigen müsste. Den Terror hat der IS ja schon in die europäischen Hauptstädte getragen.
Religiöse Werte
Ein ganz anderer Wert ist die Religiosität. Aber was ist Religiosität, was Religion? Der romantische Theologe Friedrich Schleiermacher definiert Religion als eine Anlage des Menschen. Sie bezeichnet nach diesem Philosophen eine Unendlichkeitsstelle im menschlichen Bewusstsein. Der Mensch hat, anders als Tiere, einen Bezug zur Dimension der Unendlichkeit und Jenseitigkeit außerhalb seiner irdischen Existenz. Schleiermacher zielt somit auf einen transkonfessionellen Religionsbegriff. "Religion", sagt Schleiermacher, "ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche . . . Anschauen des Universums . . . ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion".
Religion als anthropologischer Grundwert des Menschen ist noch nicht konfessionell festgelegt: Die Namen für die unendliche göttliche Macht schaffen erst die einzelnen Religionen, ob wir diese nun Jehova, Gott, Allah, Durga oder Manitu nennen. Religiosität als Wert bezeichnet zunächst nur ein bewusstes Verhältnis des Menschen zum Jenseits seiner Existenz und damit auch zu Geburt und Tod.
Heilsverheißung Armut
Mit der christlichen Religion betritt ein radikal neues Wertesystem die Bühne der abendländischen Kulturgeschichte. Es geht um die Bewertung von Armut, Elend, Sklaventum, sozialem Notstand. Die Griechen wie die Römer verachteten - von Ausnahmen wie Sokrates und dem in einem Fass lebenden Diogenes abgesehen - solche sozialen Rollen. Sie galten ihnen als verächtlich, Armut und soziales Elend war eine Schande. Umso heller musste für die Angehörigen solcher sozialen Gruppen die Verheißung eines Jesus von Nazareth klingen, der die Armen wegen ihrer Armut pries und darin sogar einen Königsweg zum Paradies sah. Armut wurde in der christlichen Sicht zu einer Heilsverheißung aufgewertet. Die im Diesseits sozial Untersten sollten im Jenseits die Ersten sein.
Die christliche Religion hat so eine Vielzahl von Werten geschaffen, die aus dem Gebot der Nächstenliebe Jesu Christi abgeleitet sind: die Fürsorge für Arme, Alte, Kranke, die karitativen Werte der Nächstenliebe, Solidarität, Empathie, Gleichheit, Friedfertigkeit und auch Nachhaltigkeit als Schutz der Schöpfung.
Einen Teil dieser Werte hat der moderne nationale Sozialstaat übernommen. Die ersten Armenhäuser und Krankenanstalten entstanden aber im Umfeld der mittelalterlichen Klöster und Kirchen. Mit der Aufklärung wurden diese Funktionen vielfach schon verstaatlicht, oft in der Form von "Zucht- und Arbeitshäusern" mit rigiden Erziehungsauflagen.
Nach dem Ersten Weltkrieg begann eine neue Epoche des Wohlfahrtsstaates, der nun - auf der Grundlage der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz -, auch das ganze österreichische bzw. deutsche Volk repräsentierte und somit eine Wohlfahrtspolitik für das ganze Volk unter dem Leitbegriff der Solidarität anstrebte. Heute stellen in den nationalen Haushalten die Sozialausgaben mit fast 30 Prozent des Gesamthaushaltes die höchsten Posten dar: in Österreich rund 100 Milliarden, in Deutschland fast eine Billion Euro.
Ein wichtiger neuer Grundwert ist die Nachhaltigkeit: Die Rationalitätskultur ist von ihrer Anlage her nicht nachhaltig. Sie nutzt die Natur, fragt aber nicht nach den Folgelasten. Lange Zeit schien ja auch das Reservoir der natürlichen Ressourcen unerschöpflich zu sein. Spätestens seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird aber auf die "Grenzen des Wachstums" hingewiesen. Die heutige Weltkultur ringt mit diesem Problem, auch bei der Ungleichheit der Verteilung und Nutzung und der explosionsartig anwachsenden Bevölkerung gerade in den ärmsten Zonen der Erde wie in der Mitte Afrikas.
Wertvoller Nahbereich
Die dritte Wertefamilie hat es im Augenblick am schwersten. Sie wird diffamiert als egoistisch und europafeindlich. Aber da verwechselt man oft "nationales" mit "nationalistischem" Denken. Das Europa, das dessen Gründungsväter angedacht hatten, war immer ein "Europa der Vaterländer", wie dies de Gaulle formuliert hat. Und wie auch anders? Der Nationalstaat ist nach wie vor die Instanz, die unser Leben am nachhaltigsten regelt durch Infrastrukturen, Bildungseinrichtungen und die genannten Sozialleistungen.
Im Übrigen gehört es zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen, dass er sich erst einmal in den Nahbereichen der Heimat und seiner Muttersprache orientiert und einlebt. Die Entwurzelungsprozesse der Globalisierung sind gleichzeitig auch Problemzonen, eben weil der homo sapiens immer auch und erst einmal lokale und muttersprachliche Wurzeln hat.
Europas zentrale Werte haben, wie gezeigt, mit der Eigenständigkeit des Denkens und Handelns zu tun und sollten als solche in Bildung, ökonomischen und politischen Institutionen gepflegt werden. Dabei stehen vielfach auch Konflikte an, so etwa der zwischen Werten der Produktivität und der sozialen Solidarität. Es scheint vernünftig zu sein, hier für einen klugen Ausgleich der Werte zu sorgen: Soziale Hilfe im vernünftigen Rahmen der eigenen ökonomischen Leistungsfähigkeit, bzw. Bereitschaft von dieser abzugeben im Rahmen einer vernünftig dosierten Sozialhilfe - und hier auch für die wirklich Bedürftigen.
Kluge Mischung
Politiker und Parteien, die sich zu sehr der wirtschaftlichen Rationalität verschreiben, sind in Gefahr, die soziale Verantwortung aus den Augen zu verlieren. Politiker und Parteien, die sich aber zu ausschließlich dieser widmen, geraten in Gefahr, das Augenmaß für das Machbare zu verlieren - und dies zumal, wenn sie internationalistisch aufgestellt sind und den Bodenhalt an die eigene Nation verloren haben.
Ein europäischer Werte-Patriotismus ist überhaupt gut beraten, wenn er eine kluge Mischung der Werte wählt, weil jede Vereinseitigung und Totalisierung eines Wertes zur Ideologisierung und auch zum Totalitarismus neigt. Aber freilich ist dies im praktischen Leben und in der praktischen Politik oftmals nur schwer abzuwägen und auszutarieren.
Europa kann sich heute in der Welt gut behaupten mit seinen Werten, wenn es denn diese Werte selbst wieder zur Geltung bringt. Insbesondere sollte sich die EU wieder verstärkt auf den europäischen Geist der Erforschung, Erfindung, Innovation besinnen. Schon Nietzsche hat konstatiert: Wir leben auch in Zeiten eines Wertverlustes, des "Hinfalls" der Werte. Um so bewusster sollten sie wieder bedacht und gelebt werden, ohne Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen, aber im Selbstbewusstsein der starken europäischen Wertefamilien und mit einem guten Maß an europäischem Werte-Patriotismus.