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Europas "Apollo 13"-Moment

Von Kami Krista

Gastkommentare
Kami Krista (Jahrgang 1999) gründete das Jungunternehmen Elio, das die Kommunikationslücke zwischen der Wissenschaft und Verantwortlichen in Unternehmen und Regierungen in Bezug auf Klimamaßnahmen überbrücken will, baute ein 200-köpfiges ehrenamtliches Übersetzungsteam in 20 Sprachen für climatescience.org auf, war unter anderem Jugenddelegierter für Österreich bei der UN-Pre-COP in Mailand und bei der COP26, schulte in Workshops 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Klimalösungen und forschte am MIT und in Harvard an einer neuartigen Idee für HIV-Therapien.
© Oskar Schmidt

Was der heutige Klimaschutz von einer gescheiterten Mondmission 1970 lernen kann.


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"Wir haben schon alle Lösungen." - "Es hapert nicht an konkreten Ideen, sondern an deren Umsetzung." - "Wir brauchen keine weitere Wissenschaft." In den vergangenen Jahren habe ich zu oft von Personen, die ich ansonsten respektiere, die eine oder andere Version dieser Äußerungen gehört, wenn es darum ging, den Fortschritt der Klimamaßnahmen und der Dinge, die zur Umsetzung benötigt werden, zu bewerten. Ob beim Austrian World Summit, bei der Mailänder Pre-COP26 vorigen September oder bei der Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow, diese Worte hallen durch die Welt der Klimaaktivistinnen und -aktivisten sowie der Politikerinnen und Politiker und finden sogar bei einigen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern Zustimmung.

Hinter dem scheinbar harmlosen Appell an Entscheidungsträgerinnen, doch endlich Worte in Taten umzusetzen, verbirgt sich jedoch eine ernsthafte Gefahr: die massive Unterschätzung der eigentlichen Komplexität der Krise, der wir gegenüberstehen - und damit ein Übersehen der Entscheidungsinfrastruktur, die wir bräuchten, um die Klimakrise bestmöglich zu meistern.

In der Vergangenheit haben Politikerinnen und Politiker sich hinter der Komplexität der Klimakrise versteckt, um Kritik an ihrem trägen Handeln zu besänftigen. Aktivistinnen wie Luisa Neubauer oder Wissenschaftskommunikatorinnen wie Catherine Hayhoe haben, um dem entgegenzuwirken, eine Kommunikationsstrategie entwickelt, die besagt, dass es nur noch an der Bereitschaft der Politik liege, den Hebel umzulegen.

Obwohl dies ein Faktor ist, ist die Realität jedoch leider komplizierter. Durch das Ökosystem der Natur und unserer Gesellschaft sind Systeme sehr stark miteinander vernetzt. Speziell durch ständige Anpassungsmaßnahmen und Katastrophenmanagement, die durch den voranschreitenden Klimawandel zusätzlich zur Reduzierung unserer Emissionen notwendig sind, nimmt diese Komplexität schnell weiter zu. Wir haben zwar viele Lösungsansätze, aber die Umsetzung ist von mehreren Parametern abhängig, unter anderem von den verfügbaren Ressourcen, den schnelllebigen Ver- änderungen der lokalen Situation und dem sich rapide weiterentwi- ckelnden Wissensstand über die Feinheiten des Problems und die verfügbaren Handlungsoptionen.

Was wir deshalb brauchen, ist, dass entwickelte und ressourcenreiche Staaten, wie es die meisten EU-Mitgliedstaaten sind, in eine digitale Entscheidungsinfrastruktur investieren, durch die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger Maßnahmen unter Berücksichtigung der aktuell bestverfügbaren wissenschaftlichen Daten treffen können, um deren Umsetzung dann über Zeit im Kontext neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen vor Ort zu überprüfen und anzupassen.

Hohe Fehlerspanne

Wir haben es bei der Klimakrise mit einem dynamischen, imperfekten Informationsspiel zu tun, bei dem die Fehlerspanne für eine bestimmte Entscheidung zu jedem beliebigen Zeitpunkt hoch ist. Infolgedessen hat eine Entscheidung, hinter der wir aktuell vielleicht zu 100 Prozent stehen, die Chance, genauso effektiv zu sein, wie eine, bei der wir uns möglicherweise nur zu 80 Prozent sicher sind. Umso wichtiger ist es daher, die Frequenz der Evaluierung dieser Entscheidungen zu erhöhen, um so schnell wie möglich den maximalen und optimalen Zustand zu erreichen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Mondmission "Apollo 13" im Jahr 1970, bei der aufgrund einer Störung bei den Sauerstoffflaschen in kürzester Zeit eine provisorische Lösung gefunden werden musste, die es der Nasa erlaubte, ihre Astronauten sicher nach Hause zu bringen. Dies war nur möglich, weil die Ingenieure auf dem Boden sehr schnell Prototypen zusammenstellten und Berechnungen durchführten, um mit den Astronauten mehrere Iterationsverfahren zu durchlaufen, anstatt sich auf einen einzigen Lösungsansatz zu konzentrieren. Gegensätzlich zu dieser Vorgangsweise treffen zurzeit Unternehmen und Regierungen langfristige Entscheidungen, wenn es um die Klimakrise geht, in der Annahme, dass sich unser Umfeld weiterhin relativ vorhersehbar entwickle.

Um dieses Muster zu verändern, braucht es zuallererst eine reibungslose Kommunikation zwischen den Wissenschaften und Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. Die Astronauten von "Apollo 13" konnten auch nur gerettet werden, weil es ein Missionskontrollzentrum gab, das den Ingenieuren erlaubte, rasch Daten auszutauschen und Situationen zu simulieren, um auf einem gemeinsamen Wissensstand Entscheidungen zu treffen.

Basierend auf mehr als 100 Interviews, die ich mit Expertinnen und Experten, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftern im Rahmen meiner Forschung geführt habe, brauchen klimawandelrelevante Daten, die aus den Wissenschaften kommen, derzeit zu lange, um zeitnah in den Entscheidungsprozess einzufließen. Folglich wird auf Basis eines veralteten Wissensstandes entschieden.

"Lebender" Klimafahrplan

Um diesem Dilemma zu entkommen, wären breitflächige rechtliche Verpflichtungen zu öffentlich zugänglichen klimawandelrelevanten Daten eine Voraussetzung, sowohl aus der Forschung als auch dem Privatsektor. Teilweise existieren diese bereits, jedoch werden sie nicht konsequent durchgesetzt, wie mir in Gesprächen mit öffentlichen Förderstellen im DACH-Gebiet (Deutschland, Österreich und Schweiz) verlautbart wurde. Deshalb ist es notwendig, diese Daten mit Hilfe einer Datenplattform zu teilen, welche die reibungslose Wissenserweiterung fördert und für eine sehr häufige und zeitnahe Datenerhebung durch Personen auch außerhalb des wissenschaftlichen Gebiets ausgelegt ist.

Da die Klimakrise und deren Lösungen synergistisch miteinander vernetzt sind, ist es wichtig, dass die Plattform diese Verbindungen speichert, anstatt die Datensätze als Silos zu behandeln, um so Erkenntnisse auf der Systemebene zu ermöglichen. Es geht konkret darum, Archive mit einer Datenplattform auszutauschen, die Klimahandlungen, mit Hilfe neuester Erkenntnisse im Bereich der Künstlichen Intelligenz, dynamisch unterstützt.

Um diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Handlungs- prozess einfließen zu lassen, müssen wir in Europa in ein Netzwerk digitaler Infrastrukturen investieren, die es uns erlauben, einen "lebenden" Klimafahrplan zu entwickeln. Dieses besteht aus drei wichtigen Elementen:

der vorhin erläuterten vernetzten Datenplattform;

Algorithmen zur Unterstützung von Verständnis, Synthese und Mustererkennung in der Informationsflut aus den Wissenschaften sowie der Forschung und Entwicklung aus dem Privatsektor;

und einem digitalen System, um, basierend auf diesen Erkenntnissen, anpassungsfähige Klimafahrpläne zu erstellen, umzusetzen und zu evaluieren.

Bei der Mustererkennung geht es darum, überwältigende Informationen in verwertbares Wissen zu verwandeln, indem schnell kritische Datenlücken und neue Muster in den relevanten Lösungsansätzen sowie verborgene Trends erkannt werden können.

Agile Richtungsänderungen

Um der Klimaherausforderung wirklich wirksam zu begegnen, sollten sich Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Unternehmen und Regierungen vom Studium wortreicher und schnell veralteter PDF-Dateien wegbewegen und stattdessen digitale Dashboards als Basis für ihre Diskussionen, Umsetzung und Überprüfung verwenden, um agile Richtungsänderungen zu ermöglichen.

Aufgrund der Komplexität der Situation brauchen wir weiter- hin gezielte Forschung und Entwicklung in vielfältigen Bereichen, speziell was die lokalen Konsequenzen des Klimawandels betrifft, sowie spezialisierte Lösungsansätze, von chemischen Prozessen in Bakterien für Materialentwicklung bis hin zu Fusionsenergie. Alleine für öffentliche Klimaforschungen geben wir global mindestens 15 Milliarden Dollar pro Jahr aus, doch die meisten Erkenntnisse treffen bei Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern zu spät ein. Um den Überblick zu bewahren und dynamisch zu bleiben, sind digitale Ansätze, die diese Informationsflut umsetzbar machen und unsere Handlungen koordinieren, dringend notwendig.

Liebes Europa, mit der wenigen Zeit, die uns bleibt, können wir es uns nicht mehr leisten, Klimafahrpläne für die nächsten fünf Jahre als tote PDF-Dateien zu verfassen. Es braucht ein Umdenken. Es braucht eine digitale Infrastruktur für einen dynamischen und lokal angepassten, europäischen Entscheidungsprozess.

Die EU steht inmitten einer Zeitenwende. Die russische Invasion in der Ukraine lässt alte Gewissheiten schwinden und zwingt Europa, sich nach innen wie nach außen neu aufzustellen. Die EU muss vor allem widerstandsfähiger, solidarischer und grüner werden. Dabei sind junge und neue Ideen gefragt. Zukunftsweisende Entscheidungen sollten nicht ohne das Mitwirken jener getroffen werden, die ihre Folgen erleben und das Europa von morgen gestalten werden. In einer Sonderserie veröffentlicht die "Wiener Zeitung" in unregelmäßiger Folge Beiträge junger Europäerinnen und Europäer unter 30 Jahren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft. Die einzelnen Texte sind dem Buch "Unter 30! Junge Visionen für Europa" entnommen, das die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) soeben im Czernin-Verlag herausgegeben hat.