Die EU und London werfen einander gegenseitig vor, das Post-Brexit-Protokoll zu torpedieren.
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Das Karfreitagsabkommen von 1998 beinhaltet wenige Details zur irischen Grenze. Die Bausteine betrafen vielmehr die Anerkennung der territorialen Integrität des Vereinigten Königreichs bei gleichzeitiger Möglichkeit einer Einigung Nordirlands mit Irland nach Referenden. Das Post-Brexit-Protokoll hat eine Zollgrenze in der Irischen See festgelegt. Gleichzeitig wurden Änderungsmöglichkeiten und sogar eine einseitige Aussetzung gewisser Klauseln vorgesehen.
Seit 18 Monaten ist die Regierung in London nun mit der Umsetzung des Protokolls säumig und behauptet, dass es in der Praxis nicht funktionieren könne. Die EU wiederum beschwert sich, dass es nur deswegen nicht funktioniere, weil London es nicht umsetze. Und in Nordirland weigert sich die protestantische Democratic Unionist Party (DUP), Teil einer Regierung unter Führung der republikanischen Sinn Fein zu sein, solange das Protokoll existiert. Vorgezogene Wahlen zum Jahresende könnten folgen.
Theoretisch bietet das Protokoll Nordirland das Beste beider Welten: Zugang sowohl zum EU-Binnenmarkt als auch zum britischen Markt. Doch für eine florierende Wirtschaft ist politische Instabilität alles andere als vorteilhaft. Unter dem Druck der DUP droht die britische Regierung der EU nun mit einer einseitigen Suspendierung des Protokolls beziehungsweise mit dem Verabschieden von britischen Gesetzen, die das Ziel haben, bestimmte Vertragsklauseln auszuhebeln.
Die britische Wette besteht darin, dass die EU nicht gleichzeitig eine chronische Instabilität in ihrer westlichen Peripherie sowie einen Krieg und Wirtschaftssanktionen in Osteuropa riskieren wird. Sollte die EU Vergeltungsmaßnahmen planen, müssten diese verhältnismäßig sein. Außerdem würden zu scharfe Maßnahmen Irland und anderen EU-Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen Interessen in Großbritannien schaden. Die USA werden Irland unterstützen, aber ein Handelsabkommen mit Großbritannien liegt sowieso in den Sternen. Stattdessen verhandelt die Regierung von Premier Boris Johnson mit einzelnen US-Bundesstaaten. Ein Referendum in Nordirland über die (Wieder-)Vereinigung mit Irland müsste von London grünes Licht bekommen. Nordirland wäre in diesem Fall kein eigenständiger Staat, sondern ein Teil von Irland. Der zukünftige rechtliche Status und Minderheitenrechte müssten sorgsam geschützt werden.
Großbritannien hat durch seinen energischen Einsatz für die Ukraine bei einigen EU-Staaten gepunktet. Das öffnet London eine Chance, der EU eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung anzubieten - im Gegenzug für eine grundlegende Überarbeitung des Nordirlandprotokolls. In zwei Jahren wird die Nordirische Versammlung über die weitere Zukunft des Protokolls abstimmen, vorausgesetzt bis dahin wird die politische Pattsituation beendet. Weder in London noch in Brüssel oder in Dublin hätte man durch eine Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen, politischen und verfassungsrechtlichen Dysfunktionalitäten etwas zu gewinnen. Es gibt auch noch viele andere Baustellen, denen sich Europa widmen muss.