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Europas Demokratie als Mängelwesen

Von Walter Hämmerle

Politik

Neue Verträge, fehlende Köpfe, falsche Forderungen? Experten analysieren.


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Wien/Brüssel.

Wie steht es um die demokratische Qualität Europas? Geht man nach den Buchstaben des Lissabonner Vertrages, eigentlich gar nicht so schlecht. Die Geschichte der anhaltenden Versuche, die Schuldenkrise zu bewältigen und die Einheitswährung zu retten, lässt allerdings die Macht der geschriebenen Verfassung in einem anderen, düsteren Licht erscheinen.

Die Klage über mangelnde demokratische Legitimation der getroffenen Entscheidungen ist groß und keineswegs nur aus einer Ecke: Bürger aus dem reichen Norden der EU fühlen sich zu Zahlern für spekulierende Banken und den maroden Süden degradiert, ohne jemals wirklich gefragt worden zu sein. In Griechenland, Portugal oder Spanien begehren die Leute gegen die als nationale Entmündigung empfundenen harten Sparpakete auf. Und sowohl die nationalen Volksvertretungen wie auch das Europäische Parlament sind, sieht man vom deutschen Bundestag ab, bei der Bewilligung von Haftungen, die an die Billionen-Euro-Grenze gehen, allenfalls Randfiguren.

Was also tun, um Europas demokratische Legitimation in den Augen der Bürger zu stärken?

Neue Strukturen oder Institutionen braucht es dafür nicht, ist die Universitätsprofessorin und Leiterin des des Salzburg Centre of European Union Studies, Sonja Puntscher-Riekmann, überzeugt. Allerdings müssten die darin liegenden demokratischen Möglichkeiten auch gelebt werden: "Die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten oder 17 Euro-Länder entscheiden ohne Rücksicht auf die Strukturen", so Puntscher-Riekmann. Deutlich werde dies daran, dass etwa der Euro-Rettungsschirm EFSF und der künftige Europäische Stabilitätsmechanismus ESM auf Grundlage von bilateralen Verträgen außerhalb des EU-Vertragswerks beruhen. Der Trend zu solch intergouvernementaler Entscheidungen ist freilich keineswegs neu: "Je kleiner der Kreis, desto einfacher lässt es sich regieren", bringt sie die vorherrschende Logik auf den Punkt.

Nichts Neues notwendig

Diese Entwicklung zu ändern, sei kleine leichte Aufgabe, zumal die nationalen Parlamente dieses Vorgehen der Regierungen abgesegnet haben. Zwar zeigen Euro-Barometer-Umfragen, dass eine Mehrheit der Bürger der Union als Ganzes und dem EU-Parlament im Besonderen mehr Kompetenz als nationalen Institutionen bei der Lösung grenzüberschreitender Probleme zutrauen, doch fehle es, so die Salzburgerin, diesem Europa an starken, wiedererkennbaren Köpfen. "Statt auf EU-Präsident Herman Van Rompuy, Kommissionschef Manuel Jose Barroso oder die Abgeordneten des EU-Parlaments fokussieren die allermeisten Medien noch immer auf die nationalen Akteure in der Berichterstattung." Wichtiger, als etwas Neues zu erfinden, ist deshalb für Puntscher-Riekmann die mediale Aufwertung der Brüsseler Institutionen, vor allem des Parlaments, um Europas demokratische Legitimation zu stärken.

Kein exklusiv europäisches Problem sieht Cathleen Kantner, Europa-Forscherin an der Universität Stuttgart, in der mangelnden Akzeptanz politischer Entscheidungen durch die Bürger: "Wir erleben derzeit einen Wandel im Politikverständnis, die etablierten Institutionen der Demokratie verlieren an Anerkennung, Politiker werden verächtlich gemacht, stattdessen werden Populismus und vermeintliche Basisdemokratie hochgehalten." Darin liege auch die Ursache für die Kopflosigkeit der gegenwärtigen Politik.

Diese Verachtung für sämtliche institutionellen Prozesse ist für Kantner jedoch eine gefährliche Entwicklung: "Demonstrieren allein ist noch kein Ausweis für Demokratie, gute Politik ist harte Arbeit, dazu braucht es Zeit und Anstrengung." Ehrliche und kompetente Politiker, die den Bürgern die Wahrheit über die Probleme in einer globalisierten Welt zumuten, sind deshalb für die Stuttgarter Politikwissenschafterin der einzige Ausweg aus dieser Akzeptanzkrise allen Politischen. Allerdings: Die Bürger müssten diese Qualifikationen auch von ihren Regierenden einfordern, "wer immer nur die Netten wählt, soll sich hinterher nicht beklagen". Dringenden Bedarf für eine Änderung der EU-Verträge sieht auch Kantner nicht.

Den Staaten das letzte Wort

Zur Verteidigung der EU-Regierungschefs setzt Tanja Börzel an, die den Jean Monet Lehrstuhl für Europäische Integration an der Freien Universität Berlin inne hat: "Bei den Rettungsmaßnahmen für den Euro geht es um zu große Verpflichtungen, als dass dafür die demokratische Legitimation des EU-Parlaments ausgereicht hätte." Von daher sei es richtig gewesen, so Börzel, dass diese von den Regierungschefs beschlossen worden sind, die allein über die dafür notwendige demokratische Rechtfertigung verfügten - auch um den Preis einer Umgehung der europäischen Strukturen. Die Berlinerin zweifelt auch die häufig ins Rennen geführte Argumentation an, Europas nationale Parlamente stießen angesichts globaler Problemstellungen an ihre Grenzen: "Ich glaube nicht, dass nationale Volksvertretungen im Vergleich zu ihrem europäischen Pendant grundsätzlich überforderter und weniger kompetent sind."

Entsprechend wenig hält Börzel von der Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung als Konsequenz aus der Schuldenkrise: "Außen-, Sicherheits- und auch die Wirtschaftspolitik sind für die Menschen von so zentraler Bedeutung, dass eine Vergemeinschaftung nicht tragbar wäre - dem EU-Parlament fehlt dafür die demokratische Partizipation wie auch die fachliche Expertise." Weder gebe es hier einen inhaltlichen Konsens noch die politische Akzeptanz bei Regierungen und Bürgern in den Mitgliedsstaaten.

Aber hat die gegenwärtige Krise nicht genau die Unmöglichkeit aufgezeigt, eine gemeinsame Währung ohne eine gleichzeitige gemeinsame Wirtschaftspolitik zu gestalten? Ja, es brauche eine stärkere Zentralisierung und Abstimmung in diesem Bereich, dies müsse jedoch auf Grundlage der vorhandenen Instrumente und Möglichkeiten geschehen.

Womit zumindest in diesem letzten Punkt doch noch Einigkeit unter den Expertinnen besteht: Neue Strukturen braucht die Europäische Union nicht, sehr wohl allerdings den Willen, das Beste aus den vorhandenen Möglichkeiten zu machen.