Wollen wir, dass die Europäer ihre nationalen Eigenheiten so weit verlieren, wie es für eine europäische Republik nötig wäre?
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Wenn nächste Woche in der gesamten Europäischen Union Parlamentswahlen abgehalten werden, geht es dabei auch um ein Thema, das praktisch nie erörtert wird, aber von erheblicher, wenn nicht gar existenzieller Bedeutung ist und deshalb irgendwie wie der Elefant im Raum herumsteht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat es zumindest indirekt adressiert, als er im November in einer Rede vor dem Bundestag feststellte: "Hier in Deutschland schaffen Regeln Vertrauen und Zustimmung; auf der anderen Seite des Rheins lösen sie Misstrauen aus und werden allzu oft auf geschickte Weise umgangen."
Das entspricht erstens den Tatsachen, gilt zweitens nicht nur für die beiden Rheinufer, sondern teilt im Grunde ganz Europa in zwei Mentalitätshälften und hat drittens entscheidende Auswirkungen auf die Frage, wohin die EU sich weiterentwickeln soll. Denn unter anderem stehen auch zwei stark unterschiedliche Visionen von einer Europäischen Union des Jahres 2050 zur Wahl: Da ist zum einen jene primär vor allem von den traditionellen Parteien des politischen Spektrums wie Christ- und Sozialdemokraten sowie Grünen und Liberalen getragene, die am Konzept der immer engeren Union festhalten, wie sie in den römischen Gründungsverträgen von 1957 gefordert wird. Es ist dies mehr oder weniger der Weg in Richtung "Vereinigte Staaten von Europa". Dem steht antagonistisch die Vision der Populisten und Neuen Rechten gegenüber, die Europa vor allem zu einem Wirtschaftsraum zurückstutzen wollen, in dem weiter und teils wieder die Nationalstaaten Herren des Verfahrens sind - also ein "Europa der Vaterländer" (Charles de Gaulle) statt "Vereinigte Staaten von Europa".
Welchem Konzept man den Vorzug gibt - und das wird seltsamerweise kaum je diskutiert -, wird wohl auch stark davon abhängen, wie man zu Macrons Diagnose über die fundamental unterschiedlichen Mentalitäten in Europa in Hinblick auf sehr viele wichtige Aspekte steht: stellvertretend etwa die Neigung zur ökonomischen Austerität im "Norden" gegenüber wirtschaftspolitischem Laissez-faire im "Süden". Wer davon ausgeht - und einiges spricht dafür -, dass sich diese Mentalitäten früher oder später angleichen, kann eher unbesorgt für das Modell der "Vereinigten Staaten" optieren. Denn wenn alle mehr oder weniger das gleiche Wertefundament haben, kann das ohne allzu ernste Konflikte klappen. Vielleicht. Wer hingegen - und auch dafür spricht ziemlich viel - annimmt, dass nicht nur der Rhein völlig unterschiedliche Mentalitäten auf sehr, sehr lange Zeit trennen wird, muss dem skeptisch gegenüberstehen. Dann nämlich würde die immer engere Union zwingend zu immer größeren Konflikten führen; der Krach zwischen Deutschen und Griechen zeigte das deutlich. Unterschiedliche Mentalitäten ohne Neigung zur Konvergenz sind wohl im "Europa der Vaterländer" besser aufgehoben.
Dahinter steht freilich noch eine andere Frage: Wollen wir wirklich ein Europa, das unterschiedliche Mentalitäten so weit vereinheitlicht, wie dies für "Vereinigte Staaten" nötig wäre? Dass in den vergangenen Wochen vergleichsweise zweitrangige Themen erörtert wurden, nicht jedoch diese ganz existenzielle Frage, war nicht wirklich ein Glanzlicht dieses EU-Wahlkampfes.