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Europas Erbe beschwören

Von Alexander von der Decken

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Alexander von der Decken ist außenpolitischer Redakteur in Bremen.

Trotz - oder gerade wegen - der Euro-Krise ist die Vision eines geeinten Europa wichtig. Sie darf nicht zur Utopie werden.


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Die EU - ein Gefängnis mit offenem Vollzug? Ein Schüttelfrostpanorama, das Realität zu werden droht. Derzeit wird über einen Bevölkerungsscanner namens Indect (intelligent information system supporting observation, searching und detection for security of citizens in urban invironment) beraten. Sicherheit für die Bürger, ein scharfes Schwert im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität sowie eine bessere Erkennbarkeit Verdächtiger - mit diesen vorgeschobenen Gründen soll der Brocken für die EU-Bürger schluckbar werden. Es ist der Einstieg in die Totalüberwachung - den vielen Identitäten droht die Normierung. Das Europa der Bürger stirbt einen qualvollen Tod.

Trotz - oder gerade wegen - der Euro-Krise ist die Vision eines geeinten Europa wichtig. Sie darf nicht zur Utopie werden. Europa steht am Scheideweg: Kappt es seine historischen Wurzeln, läutet es das Totenglöckchen. Griechenland und Italien, die Länder, die von der Euro-Krise am stärksten gebeutelt sind, sind die Konstrukteure des alten Kontinents. Ohne ihre historischen Wurzeln gäbe es das geistige Europa in seiner heutigen Ausgestaltung nicht. Es ist die Vielfalt der Identitäten, die das europäische Haus bewohnbar und lebendig macht. Diese Vielfalt ist die Konstante, die Europa trotz allen Blutvergießens zusammengehalten hat und zusammenhalten wird. Eine offene Gesellschaft ist immer verletzbar, das ist der Preis der Freiheit. Karl R. Popper hat dies in seinem Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" beeindruckend dargelegt. Die Feinde der Demokratie sind die Garanten ihres Fortbestandes. Eine Alternative gibt es nicht. Es gilt, das europäische Bewusstsein zu stärken. Das ist eine politische Aufgabe. Damit ist Verunsicherung verbunden. Das Wissen um die gemeinsamen Wurzeln ist das verbindende Element und zugleich das Serum gegen das Gift der Verunsicherung.

Im klassischen Athen wurde Europa geboren, als den Göttern erstmals das Wort des Bürgers entgegenhallte, in der Phase der Aufklärung, als die Vernunft den Staatsgedanken belebte, wuchs es. Nun ist es an der Zeit, den nächsten Schritt ins Erwachsenenalter zu tun, hin zum geeinten Europa, zum Staat Europa, in aller Verschiedenheit und in Freiheit. Der Preis dafür ist nicht nur ein finanzieller, sondern es ist auch eine Frage des Bewusstseins. Bürgerscanner der Marke Indect sind da nicht hilfreich, sie wirken misstrauensbildend. Wer sich kontrolliert fühlt, flüchtet in die Verantwortungslosigkeit, schlimmstenfalls in die Denunziation mit ihren grausamen Exzessen.

Erinnert sei an den "Mailänder Prozess gegen Pestschmierereien". Während der verheerenden Pest 1630 in Mailand, der fast zwei Drittel der Bewohner zum Opfer fielen, richtete sich der Volkszorn gegen einige Personen, denen vorgeworfen wurde, Hauswände mit einer Pestsalbe bestrichen zu haben. Unter der Folter gaben die Beschuldigten die ihnen zur Last gelegten Taten schließlich zu und wurden bestialisch hingerichtet.

Nur Offenheit gegenüber dem europäischen Erbe kann die Vision von einem Europa in Freiheit Wirklichkeit werden lassen.