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Europas große Hoffnung liegt zwischen Olivenhainen

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Nach vielen Verzögerungen sind die Hotspots auf den griechischen Inseln endlich fertig.


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Chios. Es ist angenehm warm, es weht ein sanfter Wind und die Sonne strahlt schon so stark vom blauen Himmel wie im Hochsommer, als Charalambos Lolos mit dem diensthabenden Offizier vor der Pforte steht, um ein paar Dinge zu besprechen.

Sein Händedruck ist fest, ganz so wie man es von einem Mann wie ihm erwartet. Man wechselt die ersten Worte, dann lächelt er. "Weißt du, den Namen Charalambos kann sich hier keiner merken. Die Kurzform Babis schon. Deswegen nennen mich hier alle Babis." Er macht eine kurze Pause. Dann sagt er: "Na klar, wir duzen uns hier alle. Das geht, wir sind ja hier nicht in einer Kaserne."

Babis Lolos, Oberstleutnant des griechischen Heeres, grüne Augen, stechender Blick, braungebranntes Gesicht, sportlicher Typ, schaut auf seine Uhr. Es ist 8:34 Uhr an diesem frühlingshaften Donnerstag Mitte Februar, ein paar Kilometer südlich des Hauptortes der Insel Chios in der Ost-Ägäis. Lolos Arbeitstag beginnt, sein Handy wird fortan ständig klingeln. Er hebt immer ab, er hört stets aufmerksam zu, er hilft, er gibt Anweisungen. Alle wollen etwas von ihm. Babis hier, Babis dort. So gehe das den ganzen Tag über, manchmal komme er auch in der Nacht nicht zur Ruhe, sagt der 44-jährige Offizier. Vor allem wenn hier "viel los" sei. Er meint: Immer wenn ein neuer Schub Flüchtlinge und Migranten auf Chios angekommen ist.

"Wir schaffen das"

Lolos leitet den gerade eröffneten Hotspot auf Chios. Neben ihm und drei weiteren Offizieren der griechischen Streitkräfte sind hier noch mehrere einheimische Polizisten sowie aktuell 86 Mitarbeiter der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Mitarbeiter des Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) sowie 18 Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte der Welt, das spanische Rote Kreuz oder Caritas tätig. Ein bunter Haufen. Arbeitssprache selbstredend Englisch. "Bisher habe ich es immer mit Rekruten in einer Kaserne zu tun gehabt", sagt Lolos. "Das ist das erste Mal, das ich mit Flüchtlingen arbeite und zwar mit Mitarbeitern aus verschiedenen Ländern." Nach einer kurzen Pause sagt er mit fester Stimme: "Wir schaffen das." Babis Lolos klingt wie Angela Merkel. Wie lange, Babis? "Ich weiss es nicht. Ende offen."

Hotspot - das ist das neue Zauberwort in der Flüchtlingskrise, die Europa in seinen Grundfesten viel stärker erschüttert als es die Euro-Krise jemals vermochte. Griechenland hatte sich schon im Oktober dazu verpflichtet, fünf solcher Hotspots - Registrierungszentren und Erstaufnahmelager für Flüchtlinge und Migranten in einem - in der Ost-Ägäis zu errichten. Auf Lesbos, Samos, Leros, Kos - und eben in Chios. Schon Ende vorigen Jahres sollten alle fertig sein. Doch daraus wurde nichts.

Die EU übte Druck aus. Griechenland avancierte wieder einmal zum roten Tuch, zum unartigen Kind. Diesmal nicht in der Eurokrise, sondern in der Flüchtlingskrise. Erst als die EU die Regierung in Athen medienwirksam tadelte, legten sich die Griechen ins Zeug. Mithilfe des Militärs und der Ingenieure der Polizei, die teils rund um die Uhr im Einsatz waren, wurden vier der fünf griechischen Hotspots in nur zwei Wochen fertig - pünktlich zum jüngsten EU-Gipfel. Nur auf Kos sorgen massive Bürgerproteste nach wie vor für Verzug. Die Menschen hier befürchten einen Einbruch des Tourismus, der im Gegensatz zu den anderen Inseln die praktisch einzige Einnahmequelle auf Kos darstellt.

Anders war es in Chios. "Wir haben die einheimische Bevölkerung auf den Hotspot vorbereitet. Alles muss mit Organisation und Plan getan werden. Dann zeigen die Menschen Verständnis", sagt Bürgermeister Manolis Vournous.

"Wir schließen nie"

Die EU verspricht sich viel von den Hotspots. Sie sollen den gewaltigen Flüchtlingsstrom aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderswo nach Mittel-und Nordeuropa kontrollieren, ihn optimal kanalisieren, und natürlich auch begrenzen. So lautet jedenfalls die Theorie.

Unstrittig ist, dass Griechenland dabei eine Schlüsselrolle spielt. Kein Wunder: Rund 850.000 Flüchtlinge und Migranten strömten 2015 nach Hellas. Und seit Jahresbeginn waren es mehr als 80.000 - ein Vielfaches im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das Gros kam dabei über die griechisch-türkische Seegrenze. Nach Lesbos verzeichnete Chios, nur fünf Seemeilen vom türkischen Festland gelegen, im Rekordjahr 2015 den stärksten Flüchtlingsandrang: 125.000 Menschen. Im Jahr 2014 waren es noch lediglich 6500 gewesen.

Der Hotspot auf Chios liegt zwischen Olivenhainen und kleinen, malerischen Dörfern auf einer leichten Anhöhe gut acht Kilometer südlich vom Hauptort und Hafen der Insel. Auf einem alten Fabriksgelände, wo früher Aluminium hergestellt wurde und das nun der Stadtverwaltung von Chios gehört, stehen jetzt 67 kleine Fertighäuser mit insgesamt 600 Betten. Alle haben Fenster, Klimaanlagen, Warmwasser, Feuerlöscher. Baukosten bisher: 1,2 Millionen Euro, finanziert auf griechische Staatskosten.

Bis zu 1100 Flüchtlinge und Migranten finden hier Platz und der weitere Ausbau läuft schon auf Hochtouren. Ob Elektriker oder Installateur, überall sind Handwerker im Einsatz. Geplante Kapazität des Hotspots nach dem Ausbau: 1500 Menschen. Ein Zaun ist um das knapp 3000 Quadratmeter große Areal gezogen, am einzigen, stets bewachten Eingang steht ein Gitter, aber ohne Schloss. Der Hotspot sei zwar immer bewacht, bleibe aber jederzeit offen, sagt Babis Lolos. "Wir schließen nie."

Das Herz des Hotspots in Chios schlägt in einem großen, überdachten Gebäude. Schon früh herrscht hier Hochbetrieb. Viele Frauen sind da, fast alle tragen Kopftücher. Daneben viele Kinder und Männer, darunter auch alte. Sie wirken müde, zugleich aber erleichtert nach der kurzen, aber gefährlichen Fahrt von der türkischen Küste in den zumeist überfüllten Booten. Nun warten sie geduldig, bis sie an der Reihe sind.

Die Registrierungsprozedur dauert insgesamt rund eine halbe Stunde und umfasst sechs Schritte. Zuerst werden Karteikarten verteilt, die auszufüllen sind. Nachdem Name, Geburtsdatum, und Herkunft eingetragen worden sind, heißt es erst einmal anstehen. Mit Hilfe eines Übersetzers erfolgt dann als dritter Schritt ein persönliches Interview, im Fachjargon Screening genannt, Passkontrolle inklusive, falls Dokumente vorhanden. Meist wird schon in diesem Stadium der Registrierung deutlich, woher die Menschen genau stammen, und ob sie Kriegsflüchtlinge oder Wirtschaftsmigranten sind.

Europaweit abrufbar

Noori Shaatat, Anfang 60, klein, Dreitagebart, ist Syrer kurdischer Abstammung. Er trägt ein blaues Armband. Alle, die heute ein blaues Armband tragen, sind gestern angekommen. Noori ist der Gruppe 19 zugeteilt. Die Gruppe 19 ist 62 Personen stark, angekommen auf Chios am Mittwoch um 13:25 Uhr. So steht es auf einer Tafel mitten in der Halle.

Gerade läuft die Registrierung von Gruppe 19. Noori Shaatat hat schon Schritt vier hinter sich: ein Foto von ihm ist gemacht und im Computer gespeichert worden. Nun kommt der wichtigste Schritt der Registrierung: Auf den sogenannten Eurodac-Geräten werden Fingerabdrücke abgenommen. Andreas A., der hier mit Atemschutzmaske und Handschuhen Dienst tut, ist eine - wie es im besten Beamtendeutsch heißt - "Organleihe" an Frontex. In Chios ist der Polizeibeamte aus Düsseldorf einer der Fingerabdruck-Experten. Sechzehn Mal muss Noori seine Finger oder Handfläche auf das Eurodac-Gerät legen. Alles wird digital gespeichert, alles ist künftig europaweit von den Polizeibehörden abrufbar.

"Mit dem persönlichen Foto, Fingerabdrücken und allen sonstigen Daten erreichen wir eine faktisch hundertprozentige Genauigkeit, um die Identität einer Person sofort zu erfassen und abgleichen zu können. Um welche Person handelt es sich? War sie schon einmal in Europa? Wo genau?", erklärt Andreas. Das sei nicht zuletzt im Kampf gegen Terror, aber auch zur Bekämpfung von Sozialbetrug in den Zielländern von großer Bedeutung. Im Hotspot Chios sind an diesem Morgen alle sechs Eurodac-Geräte in Betrieb, weitere stünden jederzeit zur Verfügung. "Wir arbeiten hier bei den Fingerabdrücken niemals mit Tinte, nur digital mit den Eurodac-Geräten. Da ist über Griechenland viel Quatsch berichtet worden", sagt Andreas A.

Nun folgt der letzte, der sechste Schritt: das "offizielle Dokument" der griechischen Regierung. Es wird am PC ausgedruckt und dem Neuankömmling übergeben. Noori Shataat zeigt das ominöse Blatt. Darauf steht, wie lange er in Hellas bleiben darf, nur auf Griechisch wohlgemerkt. Noori Shataat darf sechs Monate bleiben, weil er Syrer ist.

Wäre er Wirtschaftsmigrant beispielsweise aus Marokko, hätte er hingegen nur einen Monat bleiben dürfen. Egal. Kaum einer will in Griechenland, dem ewigen Euro-Sorgenland, bleiben. Das Motto lautet: "Bloß weg!". Die beliebtesten Zielländer sind, wenn man hier im Hotspot Chios an diesem Morgen in die Runde fragt, Deutschland und Schweden, wobei die Bundesrepublik deutlich vorne liegt. Auch Noori Shataat ist da keine Ausnahme. "Ich will nach Hamburg", sagt er. "Dort ist mein Sohn mit seiner Familie".

"Es gibt viel zu tun"

Der Hotspot Chios verfügt über zwei sogenannte Registrierungsstraßen, entlang denen die sechs Schritte vollzogen werden. Die maximale Registrierungskapazität pro Tag liegt bei 1050 Menschen. Bei Bedarf könnten die Abfertigungen aber auf das Vierfache gesteigert werden, mit maximal acht Registrierungsstraßen und mehr als viertausend Registrierungen pro Tag.

Dass man davon vielleicht bald Gebrauch machen wird müssen, wird klar, als Babis Lolos Besuch von einem Frontex-Mitarbeiter erhält. Auf dem Zettel, den der Italiener in der Hand hält, sind ein paar Zahlen notiert. "Babis, da kommt heute einiges auf uns zu. Seit Mitternacht sind 925 angekommen", sagt der Mann.

Babis Lolos nickt. Nach einer kurzen Pause sagt er leise: "Es gibt Momente, da spüre ich zum ersten Mal in meinem Leben Stress. Und es gibt Momente, da bin ich gerührt, kann meine Gefühle nur schwer beherrschen. Besonders wenn man die vielen Kinder sieht, die dem Krieg entronnen sind." Es ist 12:18 Uhr. Die Sonne strahlt noch stärker vom nun tiefblauen Himmel. Ein Bus fährt vor den Hotspot. Eine neue Gruppe Flüchtlinge und Migranten steigt aus. Viele Frauen, fast alle tragen Kopftücher. Daneben viele Kinder und Männer, darunter auch alte.