EU-Mandatar Karas dissertiert über die Grenzen und Möglichkeiten der europäischen Demokratie.
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Brüssel/Wien. Mit 59 Jahren sitzt Othmar Karas bildungstechnisch zwischen allen Stühlen. Zu jung für einen Seniorstudenten, zu alt für den klassischen Studiosus. Karas war Nationalrat, ÖVP-Manager und sitzt seit bald 20 Jahren im EU-Parlament. Nun hat er an der Universität Wien dissertiert. Das Thema ist brandaktuell: "Die europäische Demokratie. Grenzen und Möglichkeiten des Europäischen Parlaments".
Karas sieht in Entwicklungen, die die Integration Europas behindern oder gar rückabwickeln wollen, eine fatale Fehlentwicklung. Der Erfolgslauf der EU-Gegner in etlichen Mitgliedsstaaten ist ihm unverständlich. Eine "funktionierende europäische Demokratie mit dem Europäischen Parlament als unermüdlich schlagender Herzkammer" ist für ihn das beste und einzige Gegenmittel. Also hat sich Karas dieses Parlament als Forschungsobjekt erwählt, dem er auch per Fragebogen an die EU-Abgeordneten und Experteninterviews zu Leibe rückt. Karas untersucht die Grenzen und Möglichkeiten des EU-Parlaments anhand zweier Fallstudien: dem Umgang mit der Wirtschafts- und Finanzkrise nach 2008 sowie mit der Flüchtlingskrise nach 2015.
Dass der Weg zur Empirie auch für ihn steinig ist, bekam Karas schnell zu spüren. Die Bitte um Beantwortung seines Fragebogens blieb meist unerhört. "Die Bereitschaft, sich auch im Lichte der Debatte über die Zukunft Europas uneigennützig 20 bis 30 Minuten Zeit zu nehmen, war sehr gering. Ich bin enttäuscht, weil ich mir mehr erwartete (. . .)." Diese Erfahrung könnte wohl jeder Student unterschreiben. Leider nimmt die geringe Rücklaufquote der Untersuchung zwar nicht ihre Relevanz, ihre Ergebnisse können jedoch nicht als repräsentativ für die Abgeordneten des EU-Parlaments angesehen werden.
Deren Selbstbild und ihr Blick auf die EU fällt umso positiver aus, je länger sie in Brüssel und Straßburg arbeiten. Das Gros der befragten Mandatare ist trotzdem überzeugt, dass es sich bei den EU-Wahlen um eine "Sekundär-Wahl" handelt, bei der die Bürger ihre Regierung abstrafen. Politisch ergiebiger fallen die Tiefeninterviews aus. Karas hat solche mit den vier Spitzenkandidaten der EU-Wahl von 2014 geführt: Jean-Claude Juncker (Christdemokraten), Martin Schulz (Sozialdemokraten), Guy Verhofstadt (Liberale) und Ska Keller (Grüne).
Dass diese stärker übereinstimmen als die EU-Abgeordneten, ist bemerkenswert, Kritiker könnten darin ihre Meinungen von der EU als Elitenprojekt bestätigt sehen. Inhaltlich fordern die vier eine klare Zuordnung der Kompetenzen innerhalb Europas und das Ende der gemischten Zuständigkeiten, wo zwei und mehr Institutionen Mitsprache haben. Ziel müsse es sein, dass auf jeder Ebene nur ein Parlament, und auf EU-Ebene eben das EU-Parlament als Gesetzgeber auftrete. Rechtsgrundlage für alle EU-Entscheidungen müsse das Unionsrecht sein, in Krisen müsse die Gemeinschaftsmethode die Entscheidungsprozesse bestimmen. Karas bezeichnet für das Unionsparlament als Volksvertretung "sui generis", also von ganz eigener Art, eine Charakterisierung, die auch die Union als Gesamtes prägt.
Er will das Parlament deshalb nicht daran messen, ob es alle Kriterien der politikwissenschaftlichen Theorien erfülle, sondern ob es seine Rolle als Herzstück der EU-Demokratie wahrnehme. Nicht immer hält sich Karas an seine Rolle als Wissenschafter, wiederholt geht mit ihm der Vollbluteuropäer durch. Das passt stilistisch nicht immer zusammen, macht die Arbeit aber lebendiger. Eine Kernfrage, nämlich ob sich die EU-Bürger auch mit dem EU-Parlament identifizieren, leuchtet Karas nicht näher aus. 2093 Fußnoten sind ein starker Hinweis, dass sich der Autor eingehend mit einer der wichtigsten Fragen Europas beschäftigt hat.