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Europas Macht-Paradoxon

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Erdogan zielt auf die Achillesferse der EU: ihre humanitären Ziele. Das ist unsympathisch, aber wirksam.


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Das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei war, wie alle Politik, aus der Not geboren. Seine Notwendigkeit und sein Nutzen sind so unbestritten wie der Umstand, dass sich die EU damit erpressbar machte. Die Millionen an syrischen (und afghanischen, pakistanischen und kurdischen) Flüchtlingen sind deshalb ein Faustpfand in der Hand eines launenhaften Autokraten namens Recep Tayyip Erdogan.

Das macht das Abkommen nicht falsch. Die Erpressbarkeit der EU ist nur zum geringeren Teil die Folge ihrer inneren Widersprüche, etwa in Bezug auf eine kohärente Flüchtlingspolitik. Zur Hauptsache ergibt sie sich aus dem Wohlstands- und Friedensgefälle zwischen dem kleinen Zipfel am westlichen Rand der eurasischen Landmasse und der Armut und Instabilität der riesigen Regionen rundherum.

Nicht erpressbar wäre in dieser Situation lediglich ein Imperium, das willens wäre, anderen den eigenen Willen auch gegen Widerstand aufzuzwingen. Doch von einer solchen Union findet sich nichts in den Verträgen zur europäischen Integration. Andernfalls würde es die EU nicht geben. Dieses Detail übersehen all jene, die stets und laut Europas Entschlossenheit gegen pragmatische Machiavellisten einfordern.

Trotz ihrer Erpressbarkeit verfügt die EU auch in der aktuellen Migrationskrise über Machtmittel, mit denen sich gegenüber der Türkei wuchern lässt, allen voran ihre überwältigende Bedeutung als größter Binnenmarkt und bedeutender Investor. Anders als plötzliche Grenzöffnungen für Hunderttausende oder Luftangriffe greift diese Macht mittel- und langfristig. Dann jedoch umso stärker.

Das weiß man in Brüssel so gut wie in Ankara. Aber was nützt all die Macht, die Türkei in ein weiteres Armenhaus vor der eigenen Haustür zu verwandeln, wenn dadurch der Migrationsdruck auf die EU nur weiter wachsen würde? Es ist paradox: Selbst die eigene Macht rücksichtslos gegen Widersacher einzusetzen, würde die EU also nur noch erpressbarer machen.

Doch das sind Extrem-Gedankenspiele. Erdogan weiß, dass er heute einer in der Migrationsfrage geschlossenen Union gegenübersteht. Und er weiß, dass er die EU mindestens so sehr benötigt, wie die EU-27 die Türkei brauchen. Mit der Instrumentalisierung von Menschen trifft er die EU an der schwächsten Stelle: dem humanitären Anspruch ihrer Politik, der trotzdem eine Stärke bleibt. Am Ende wird wieder ein Kompromiss stehen, den nur begrüßen wird, wer weiß, dass komplizierte Probleme keine einfachen Lösungen kennen.