Dem gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung muss endlich eine gemeinsame europäische Demokratie folgen. Nur so können wir das weltoffene Europa bewahren, das die Mehrheit der Europäer nach wie vor will.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es ist gerade noch einmal gut gegangen: In Österreich, den Niederlanden und Frankreich konnte jeweils mit knapper Not verhindert werden, dass eine rechtspopulistische Regierung an die Regierung kommt. Doch die Gefahr ist nur gebannt, noch nicht vorbei. Das Tückische am Rechtspopulismus ist, dass er schnell systemisch wird: Die Ideen gewinnen, auch wenn die Rechtspopulisten nicht die Wahlen gewinnen - ganze politische Systeme rücken nach rechts. Die Anbiederung ist die eigentliche Gefahr.
Europa ist trotz des augenblicklichen Aufatmens in einer tiefen politischen Malaise. Gegenüber stehen sich die sogenannten Identitären, die ein reaktionäres Weltbild vertreten und offen die Abschaffung der bestehenden europäischen Ordnung anstreben; auf der anderen Seite eine europäisch gesinnte Zivilgesellschaft, alarmierte Jugendliche oder besorgte Bürger als Verteidiger der europäischen Aufklärung im Sinne des Erbes der Französischen Revolution. Es ist keine Auseinandersetzung zwischen Nationen, sondern eine politisch-ideologische Frontstellung, die längst paneuropäisch verläuft. Es geht um die Schließung von Universitäten (Ungarn), das Recht auf Abtreibung (Polen), die Fähigkeit, eine korrupte Regierung überführen zu können (Rumänien), das kalte Kassieren von progressiven Zeitungen (Ungarn) oder die Unterminierung von Verfassungsgerichtsbarkeit (Polen und Ungarn). Wir erleben eine nicht gekannte verbale Aufrüstung in der Politik und jeder, der das letzte Fernsehduell zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron vor den Wahlen verfolgt hat, oder auch das Duell zwischen der neuen AfD-Frau Alice Weigel und Robert Menasse im österreichischen Fernsehen, weiß, wovon die Rede ist: unterirdische Diskussionen, bei denen einem sprichwörtlich die Spucke wegbleibt vor so viel Chuzpe zur Lüge und Diffamation.
Ist dieser Riss in der politischen Kultur, in den europäischen Gesellschaften noch zu kitten? Wie sollen Europas Staaten damit umgehen? Gibt es ein Zurück in die heimelige nationalstaatliche Demokratie oder müssen neue Wege aufgezeigt werden, europaweit der rechtspopulistischen Falle zu entgehen, bevor sie zuschnappt?
2015 hat der Philosoph Giorgio Agamben ein Buch veröffentlicht: "Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma". Er beschreibt darin den Zerfall von politischen Körpern, in denen der eine Teil der Bürger nicht mehr für sich in Anspruch nehmen kann, den politischen Körper in seiner Gesamtheit zu vertreten. In dieser Krise der Repräsentation stehe eine Menge von Bürgern gegen eine andere. De beiden Mengen wollen etwas grundsätzlich anderes und keine ist mehr "das Volk". Diese Situation entstehe in Zeiten institutioneller Stockung oder Stauchung, was im altgriechischen "Stasis" heißt, übersetzt mit ‚Bürgerkrieg‘.
Auch die EU befindet sich in einer institutionellen Stockung. Die EU hat sich und ihre Rechtsnormen nicht mehr weiterentwickelt und überfällige gesellschaftliche Entwicklungen nicht befördert, z.B. mit Blick auf ihre parlamentarische Legitimität. In der Konsequenz hat sich ein zunehmend großer Teil der Bürger europaweit gegen die die EU und gegen den Euro gestellt. Damit steht in vielen europäischen Ländern Menge gegen Menge. Der rechtskonservative Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, der jetzt im Kabinett Macron ist, sagte kürzlich: "Zwischen Emmanuel Macron und mir und gibt es politische Unterschiede. Aber Marine Le Pen und ich, das ist unversöhnlich."
Was aber machen wir in Demokratien, in denen es unversöhnliche Bruchstellen zwischen Bürgern gibt? Was ist die Zukunft der repräsentativen Demokratie? Wer kann beanspruchen, das Volk zu repräsentieren? Sind jetzt die ‚Brexiter‘ das britische Volk - oder die Brexit-Gegner? Vertreten die Pegida-Leute das deutsche Volk oder doch eher die Pulse-of-Europe-Bewegung?
Wir erleben zurzeit nicht, wie uns weisgemacht wird, eine Renationalisierung, sondern eine Spaltung der Bürger. Die Krise der Repräsentation spaltet die europäischen Nationen, das ist die zentrale These meines neuen Buches. Mit dem klassischen Links-Rechts-Schema der Parteiensysteme Westeuropas hat das nichts zu tun, der Riss geht nicht durch die Parlamente, er geht quer durch die ganze Gesellschaft, teils mitten durch Familien. Ob diese Spaltung gekittet werden kann, ist die große Frage. Meine Antwort ist "nein", jedenfalls nicht durch eine Rückkehr in einen heimeligen Nationalstaat. Vielmehr geht es darum, sich die große historische Bewegung der nationalen Spaltung für die Neubegründung eines politischen Körpers in Europa zu Nutzen zu machen.
Wenn der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die Unzulänglichkeiten der europäischen Institutionen ist, dann müssen diese ergänzt und verändert werden: Ein europäischer Markt, eine europäische Währung, eine europäische Demokratie muss jetzt das Ziel sein. Bürger dürfen in einer politischen Einheit nicht zueinander in Konkurrenz gesetzt werden. Darum müssen in einer europäischen Demokratie vor allem zwei Dinge gelten: Die europäischen Bürger sind gleich vor dem Recht. Das würde die europaweite Durchsetzung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes bedeuten, also Gleichheit bei Wahlen, Gleichheit bei Steuern und gleicher Zugang zu sozialen Rechte für alle europäischen Bürger. Und zweitens: Es gibt Gewaltenteilung. Beides ist in der EU derzeit nicht der Fall. Politics tops nation, Politik kommt vor Nation, das wäre die große Europäische Reformation. Es gilt, die derzeitige Spaltung der Nationen durch die Demokratisierung der EU zu überwinden.
Der Moment der größten europäischen Krise seit Gründung der EU könnte so zur Geburtsstunde eines neuen Europas werden, in der die europäischen Nationalstaaten zu einer wirklichen politischen Einheit verschmelzen, weil die europäischen Bürger diese politische Einheit jenseits der Brüsseler Institutionen neu begründen.
Wenn wir die "granulare Stunde" Europas, in der wir uns befinden, den Moment der Spaltung der europäischen Nationalstaaten, richtig deuten, und zwar als Übergang von einem politischen Aggregatzustand in einen anderen, dann können uns die Rechtspopulisten eine Mammutaufgabe abnehmen, nämlich indem sie die Nationalstaaten, die zu einen sie vorgeben, de facto kaputtmachen. Gut so, denn sie müssen weg! In einem demokratischen Europa, in dem die Bürger tatsächlich der Souverän des politischen Systems sind, haben Nationalstaaten keinen Platz. Europa ist ohne die entschiedene Ablehnung des Nationalstaats als vermeintlichem Inhaber von Souveränität gar nicht denkbar. Sich daran zu erinnern, ist das Gebot der Stunde!
Die Entscheidung:Zurück in die Geschichte?
"Ich werde mit allen Kräften gegen die Spaltung kämpfen, die uns zermürbt und entmutigt", beschwor Emmanuel Macron seine glücklichen Anhänger und Anhängerinnen in seiner Siegesrede am Wahlabend.
Macron, dem europäischen Einigungsgedanken verpflichtet, war sich der Bedeutung bewusst: "Europa und die Welt blicken auf uns. Sie erwarten von uns, dass wir den Geist der Aufklärung verteidigen." Eine ähnliche Aufbruchsstimmung gab es in Europa schon einmal.
Von Einheitswunsch und Freiheitsgedanken getragen, im Nachklang der Französischen Revolution, verfasste Johann Gottlieb Fichte 1808 seine "Reden an die deutsche Nation", die es damals noch gar nicht gab. Fichte nahm sozusagen den vom irischen Politikwissenschafter Benedict Anderson eingeführten Begriff der imagined communitiy vorweg, der "vorgestellten Gemeinschaft", die im Kopf anfängt, bevor sie Wirklichkeit wird. Für Europa gilt heute das Gleiche wie damals für Deutschland. Die Rede haben wir schon: Den Discours à la nation Européenne von Julien Benda, verfasst 1932 unter Bezugnahme auf Fichte und den deutschen Idealismus. Auch hier ist Nation als Chiffre für Einheit zu lesen und nicht nationalistisch.
Die Rede gilt es wiederzuentdecken. Sie ist im Grunde eine Abrechnung mit der säkularisierten Moderne, wie sie aktueller nicht sein könnte. Europa könne nie durch wirtschaftliche Kooperation allein erzielt werden. Das "Zurück-zum-Binnenmarkt"-Szenario des Jean-Claude Juncker hätte befremdendes Kopfschütteln ausgelöst. Bendas Rede ist im Gegenteil eine Regieanweisung für die politische Integration.
Fichtes Begehren war es, den Impuls von Liberté, Égalité, Fraternité auf das deutsche Einheitsstreben zu übertragen. Seine Reden initiierten einen nationalen Aufbruch, der spätestens mit dem Hambacher Fest 1832 zu einer emanzipatorischen Bewegung wurde, und zwar von unten, getrieben von den Bürgern Deutschlands. Gesucht wird heute also ein europäisches Hambach, das in einen europäischen Vormärz mündet - als Aufbegehren gegen Kleinstaaterei und Reaktion! Wie damals geht es heute um bürgerliche Opposition gegen die Restauration, um Einheit, Freiheit und Volkssouveränität. Die Stärke des Vormärz, die vom Hambacher Fest ausging, bestand in der Sammlung einer großen - damals nationalen - Bewegung, die sowohl vom Gleichheits- als auch vom Freiheitsversprechen beflügelt war. Heute müsste es eine europäische Bewegung sein. Auch damals ging das nicht von heute auf morgen, der Prozess zog sich über Jahrzehnte hin. Die bürgerlich-demokratische und nationale Einheits- und Freiheitsbewegung gegen die Restaurationsbestrebungen der Heiligen Allianz mündete schließlich im Zuge der Revolution von 1848/49 in Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung in der Paulskirche. Von da war es noch ein weiter Weg zur Wahl des Reichstags des Norddeutschen Bundes 1867 mit einem damals in jeder Hinsicht revolutionären allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht.
Europas Geist vs.Europas Ungeist
Genau das könnte auch heute der Schlüssel für ein geeintes Europa sein: ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für alle europäischen Bürger, diesmal nicht nur jenseits von Ständen, sondern auch jenseits von Nationen. "Eine Person, eine Stimme" ist der erste und wichtigste Schritt der europäischen Reformation, wenn wir noch die Absicht haben, auf diesem Kontinent eine politische Einheit zu begründen, die die wirtschaftliche Einheit erst legitimiert. Erst dann kann das Europäische Parlament zum Sachwalter einer europäischen Demokratie werden, die ihren Namen verdient. Wir müssen also das Erbe der Französischen Revolution europäisieren: Die Republik muss europäisch werden! Aus der Bundesrepublik, der République Française, der Republik Österreich, der Repubblica Italiana oder der Rzeczpospolita Polska etc. wird eine Europäische Republik durch allgemeine und gleiche Wahlen, begründet auf dem Gleichheitsgrundsatz aller europäischen Bürger. Ich nenne diesen Prozess den "europäischen Vormärz", eine Road-Map für alle, die über derzeitigen Entwicklungen zutiefst besorgt sind. Motto für diese politische Neugründung Europas muss sein: ein Markt - eine Währung - eine Demokratie!
Denn zum zweiten Mal erleben wir, dass sich ein originär ökonomischer Konflikt und eine Krise des Liberalismus in Nationalismus kanalisieren. Nationalismus ist Ausdruck des vergeblichen Ringens um eine fällige gesellschaftliche Weiterentwicklung. Er ist eine Reaktion auf die Probleme, nicht deren Ursprung: Hier liegt die Ähnlichkeit zu dem, was vor ziemlich genau hundert Jahren schon einmal in Europa diskutiert und auch schon als "europäischer Bürgerkrieg" bezeichnet wurde, nämlich als Kulturkampf zwischen europäischem Geist und nationalem Ungeist. In seiner Schrift "Das geheime Europa", kurz vor seinem Tod an der Front verfasst, deutet der Maler Franz Marc den Ersten Weltkrieg als einen Kulturkampf geistig-moralischer Art, der zwischen den Kräften eines progressiv-künstlerischen und eines säkularisiert-materialistischen Europas ausgetragen werde.
Wie damals geht es auch heute um einen Gesellschaftsentwurf für Europa, um die Frage nach dem politischen Überbau Europas.
Auch heute sind die Grenzen zwischen nationalem und sozialem Lager fließend.
Das Nationale und das Soziale vermischen sich oder, mit La Bruyères Worten: les extrêmes se touchent. Podemos in Spanien ist durchaus radikalsozialistisch orientiert und experimentiert mit basisdemokratischen Modellen, hat aber eine eher nationale, zumindest nur bedingt europäische Ausrichtung. Pegida wäre wiederum eine Art postmoderne deutsche Variante der damaligen Action Française von Charles Maurras. Die gesellschaftspolitische Debatte stand damals wie heute quer zu den Nationen - und konnte doch immer nur national artikuliert werden. Den Sprung raus aus der nationalen Spur jetzt ein für alle Mal zu schaffen ist die europäische Aufgabe von heute. Nie waren wir so nahe daran und hatten so viele Mittel, den europäischen Bürgerkrieg zu beenden und aus ihm einen "europäischen Gesellschaftsentwurf" (Oskar Negt) hervorzubringen. Wenn wir es schaffen, den Nationalstaat als bisher einzige Gussform für Demokratie und Sozialstaatlichkeit zu sprengen, dann gibt es die Chance, dass die Neugründung Europas gelingt.
Die große Reformationoder: Europa üben
Wir schaffen kein demokratisches Europa, ohne zu üben. Europäischer Bürger zu sein muss man üben wie alles andere auch: schwimmen, Rad fahren oder Klavier spielen. "Nur der Charakter der Bürger erschafft und erhält den Staat und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich", schrieb Friedrich Schiller. Die europäischen Bürger brauchen also dringend eine Lernerfahrung, in der sie sich als gemeinsamen politischen Körper verstehen lernen. Denn bekanntlich lernt man nicht nur kognitiv, sondern vor allem über Erfahrung, sonst würden nicht alle auf die Herdplatte fassen müssen. Erst wenn man durch Erfahrung lernt, dass das, was man übt, auch geht, und zwar immer besser geht, lässt man, wie beim Fahrrad, irgendwann die Stützräder weg, in diesem Fall den Nationalstaat. Dies wäre eine entscheidende Wegmarke, um das politische System in Europa von einer "Staatenunion", die im Wesentlichen über einen nur indirekt legitimierten EU-Rat regiert wird, in eine wirkliche europäische Demokratie zu überführen.
In ihr muss gelten: Die Bürger sind der Souverän, vor dem Recht sind alle gleich, das Parlament entscheidet, und es herrscht Gewaltenteilung. Es wäre die große Reformation Europas im Sinne des europäischen Geistes!
Aus der Wahlrechtsgleichheit ergibt sich der nächste Schritt der großen europäischen Reformation, nämlich jener, die europäische Staatsbürgerschaft materiell auszubuchstabieren. Wir haben 1992 den Euro auf die Zeitschiene gesetzt und in drei Schritten zwischen 1994 und 2002 die Währungsunion geschaffen. Innerhalb von zehn Jahren wurden von Lappland bis zur Südspitze der Algarve alle Geldautomaten mit Euros ausgestattet. Jeder europäische Bürger hat eine IBAN-Nummer bekommen.
Sollte es nicht möglich sein, in einem auf 10, 15, 25 Jahre angelegten Prozess dafür zu sorgen, dass wir von Tampere bis Thessaloniki Wahlrechtsgleichheit haben? Und dann einen europäischen Pass, eine europäische ID und eine europäische Steuernummer bekommen? Und zuletzt eine europäische Arbeitslosenversicherung und ein europäisches Bürgergeld? Warum eigentlich nicht? Gleiche Rechte für gleiche Bürger! Wir sind die Bürgerinnen und Bürger Europas! Es lebe die Europäische Republik!