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Vorbei sind die Zeiten, in denen Politiker aus Land und Bund ihre Kollegen in den Gemeinden und Städten ob ihrer Gestaltungsmöglichkeiten mitleidig belächelten. Während früher ein eng begrenzter Handlungsspielraum noch als klassisches Schicksal der kommunalen Politik galt, so sind heute davon vor allem die Mächtigen in Bund und Ländern betroffen. Europa steht erst am Anfang einer grundlegenden Neuverteilung seiner politischen Zuständigkeiten. Gewinnen werden dabei aller Voraussicht nach die europäische und die regionale Ebene, verlieren vor allem der Bund, wahrscheinlich aber auch die Länder.
Langsam aber unaufhaltsam kommt auch hierzulande die Diskussion über Europas zukünftige politische Ordnung in Gang. Von wem soll wo und was im Europa von morgen politisch entschieden werden? Diese Frage steht im Mittelpunkt einer europäischen Verfassung.
Politische Entscheidungen für Österreich werden derzeit von vier Ebenen mehr oder weniger autonom entschieden: Gemeinden, Länder, Bund und Europa sind direkte Konkurrenten um Macht und Einfluss. Sieger und Verlierer in diesem Wettlauf um Kompetenzen stehen zwar noch nicht endgültig fest, Trends und Tendenzen lassen sich aber schon ausmachen. In einer ersten Runde sind die Zuständigkeiten Europas auf Kosten der nationalen Regierungen massiv ausgedehnt worden.
Es wäre allerdings nicht Politik, wenn aus diesem Kompetenzverlust nicht auch ein - wenn auch ambivalent zu beurteilender - Vorteil resultieren würde: Der faktische Machtverlust erlaubt es nun den nationalen Verlierern in diesem Kompetenzkarussell, die Verantwortung für bestehende Probleme und unangenehme Lösungen von sich weg- und Brüssel zuzuschieben. Nicht selten wird die Chiffre Brüssel so zur innenpolitisch willkommenen Ausrede für unpopuläre Entscheidung. Die entsprechend negativen Folgen einer solchen Taktik für das Ansehen Europas und seiner Institutionen in den Augen der Bürger sind dabei nur ein Faktor im Kalkül der handelnden Personen, ein anderer sind die Chancen auf die eigene Wiederwahl bei kommenden Wahlgängen. Auch Österreichs Politiker machen gerne von dieser praktischen Aufgabenteilung Gebrauch. Ohne den Verweis auf das gestrenge Brüssel wäre so manche innenpolitisch schmerzhafte Entscheidung nicht möglich gewesen, man denke nur etwa an die Abschaffung zahlreicher Monopole, die Liberalisierung der Telekommunikation- und Energiemärkte, die Verpflichtung zu Budgetdisziplin oder den Zwang zu europaweiten Ausschreibungen bei Auftragsvergaben.
Motor dieser Umverteilung von Macht und Einfluss ist die wohlbegründete Angst, dass Politik jeglichen steuernden Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu verlieren droht. Diese Entwicklungen sind längst nicht mehr national, und die Schrittmacherrolle der Globalisierung ist fest in der Hand des Ökonomischen. Für demokratische Systeme in der Tat ein fataler Ausblick. So gesehen ist der Verzicht auf nationale Entscheidungsgewalt zu Gunsten europäischer Institutionen ein durchaus logischer Versuch der Politik, zumindest ein gewisses Maß an Steuerungskompetenz in eigener Hand zu bewahren.
Dass Europa von diesem Machtverlust der nationalen Politik in erster Linie profitiert, ist in einer sich immer enger vernetzenden Welt ein Gebot der Logik. Genauso logisch, wenn auch weniger offensichtlich ist ein absehbarer zweiter Gewinner dieser Entwicklung: Die lokale Politik.
Was dabei die zukünftige Rolle von Österreichs neun Bundesländern betrifft, so ist diese im Moment noch recht vage und unbestimmt. Von einer zielführenden Diskussion sind wir hier noch weit entfernt. Zweifel an der Effizienz der Lokalpolitik und strukturelle Doppelgleisigkeiten mischen sich mit Respekt vor Traditionen, regionalen Identitäten und einer immer wieder erstaunlichen politischen Innovationskraft. Rein ökonomisches Kosten-Nutzen-Kalkül greift in dieser Frage sicherlich zu kurz.
Es ist gerade die kommunale Ebene, die tagtäglich unzählige politische Entscheidungen trifft, die für die konkreten Lebensbedingungen und Lebensqualität der Menschen vor Ort ungleich bestimmender sind als so manche Gesetzesvorlage der so genannten hohen Politik in Brüssel oder Wien. Und es ist wahrscheinlich, dass dieser Einfluss der lokalen Ebene noch weiter zunehmen wird. Jede Reorganisation der Aufgaben der öffentlichen Hand in Zeiten ständiger Budgetnöte wird notwendigerweise jene Politikebene stärken, die den Sorgen und Problemen der Menschen am nächsten ist. Schließlich trifft man einander auf der Straße, im Wirtshaus oder bei Veranstaltungen.
Beim notwendigen Umbau unseres Wohlfahrtsstaates wird daher die lokale Politik eine wichtige Rolle spielen. Brüssel und auch Wien werden auf das Know How der lokalen Politik über die tatsächlichen Probleme der Bürger nicht verzichten können. Das ist der Grund, weshalb über kurz oder lang die Städte und Gemeinden zu den Gewinnern der Machtverschiebungen im europäischen Einigungsprozesses gehören werden.
Dr. Walter Hämmerle ist Politikwissenschafter in Wien.