Im Vergleich zum Europäischen Rat ist für den durchschnittlichen Bürger das EU-Parlament eine völlig intransparente Organisation.
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Heute, Dienstag, stimmt das EU-Parlament über die vom Europäischen Rat - also von den Staats- und Regierungschefs - designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ab. Man kann nur auf einen positiven Ausgang hoffen. Eine Ablehnung würde eine ernste Governance-Krise und Schwächung der EU bedeuten.
Nachdem sich der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, für die Funktion des Kommissionschefs nicht durchsetzen konnte, ging nahezu unisono ein Shitstorm der öffentlichen und im Gefolge der Sozialen Medien über die Staats- und Regierungschefs nieder. Von "Packelei in Hinterzimmern" war die Rede, von Arroganz durch Missachtung des Mehrheitswillens, von einem bedauerlichen Rückschritt in der Demokratisierung der EU. Ich halte dagegen: Hätten Europas Meinungsbildner und in der Folge die Sozialen Medien das letztlich vom Rat abgesegnete Viererpaket nicht leichtfertig niedergemacht, wäre der überwiegenden Mehrheit der Bürger nichts abgegangen.
Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang eine grundlegende Frage: Sollte sich ein überzeugter Europäer wirklich wünschen, unter den heutigen vertraglichen und politischen Rahmenbedingungen das EU-Parlament weiter zu stärken? Oder sollte die Europäische Union, oft als "Konstrukt sui generis" bezeichnet, weil weder Staatenbund noch Bundesstaat, nicht auch ein "Parlament sui generis" haben? Im Vergleich zum Europäischen Rat in seinen diversen Ausprägungen (Rat der Finanzminister, der Umweltminister, etc.), ist für den durchschnittlichen Bürger das EU-Parlament eine völlig intransparente Organisation. Die Wahl erfolgt in einem strikt nationalen Rahmen ohne europäische Öffentlichkeit und wird daher von nationalen Anliegen dominiert. Von den 751 Abgeordneten kennt man hierzulande nicht einmal alle 18 österreichischen, geschweige denn auch nur die Delegationsleiter anderer Mitgliedstaaten. Die Untergliederung in Fraktionen ist ein Schwarzes Loch, wenn es nicht gerade um den Hinauswurf von Viktor Orbáns Fides aus der EVP-Parteienfamilie geht, ebenso das Zusammenspiel dieser Fraktionen und der Entscheidungsprozess des EU-Parlaments samt der meist notwendigen Abstimmung mit dem Rat. Wir wissen, wie jeder und jede Abgeordnete im Plenum schlussendlich abgestimmt hat, aber das ist eine rein formale Transparenz. Vorbereitet und "vorgedealt" werden die Beschlüsse in kleineren Räumlichkeiten. Dem gegenüber ist eine Ratsentscheidung für den Bürger prinzipiell nachvollziehbar. Daran nehmen Regierungsmitglieder jedes Mitgliedslandes teil und treffen, ja, hinter verschlossenen Türen ihre Entscheidungen, die dann veröffentlicht werden. Das Wesentliche dabei: Der Bürger fühlt sich und sein Land durch einen ihm meist bekannten Vertreter repräsentiert; und er hat Verständnis dafür, dass sich dieser nicht immer in einer Gruppe von 28 Ländern voll durchsetzen kann.
Die dringendste Reform für eine nach innen und im globalen Kontext starke und handlungsfähige EU betrifft freilich nicht das EU-Parlament, sondern die Abschaffung der Einstimmigkeit im Rat. Da sind leider die EU-Kritiker vor.
Erhard Fürst war Leiter der Abteilung Industrie- und Wirtschaftspolitik in der Industriellenvereinigung.