Wo positioniert sich Europas IT-Industrie zwischen Überwachungskapitalismus der USA und der digitalen Diktatur Chinas?
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Wien. Der US-Start-up-Investor Burton Lee sitzt auf der Bühne des Pioneers-Festivals in der Wiener Hofburg und hat keine guten Nachrichten. Er hält einen Zettel vor seiner Brust, darauf sind unterschiedlich große Kreise zu erkennen. Je größer der Kreis, desto größer der Börsenwert des jeweiligen Unternehmens. Rechts und links sind vergleichsweise riesengroße Flächen zu sehen, Apple, Amazon und Alphabet rechts im "Reich" der USA, Alibaba, Tencent und Samsung links in Asien. In der Mitte Europa: Vergleichsweise kümmerliche Kreise. SAP, Spotify, Wirecard. Börsenwert im Vergleich zu den Giganten: vernachlässigbar.
Der Amerikaner Burton Lee hat bei diesem Start-up-Festival in Wien eine Mission: Er will seine Mitdiskutanten auf dem Podium, die Französische Digitalisierungs-Expertin Axelle Lemaire vom Beratungsunternehmen Roland Berger und Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer davon überzeugen, dass die EU sich mächtig anstrengen wird müssen, um den Rückstand zu den USA, aber auch zu China und Korea, zu verringern. Es fehle, sagt Burton Lee, an einer "holistischen Strategie", bei der Universitäten, Forschungsinstitute und die Industrie an einem Strang ziehen. Und der Amerikaner argumentiert, dass Europa zwar eine Industriepolitik verfolge, es aber eines eigenen Zugangs für die Software-Industrie bedürfe. Burton Lee stellt die Frage: "Warum betrachtet Europa Software nicht als eine Industrie wie die Chemieindustrie, Logistik & Transport, Produktion, Banken- und Finanzen, Landwirtschaft oder Tourismus?"
Die nächste Tech-Revolution
Tatsächlich: Europa ist, wenn es um Software und IT geht, hoffnungslos abgehängt. Dabei geht es längst um das nächste große Ding, künstliche Intelligenz (artificial intelligence, kurz A.I.). Bei einer Konferenz des deutschen Technologie-Magazins "ada" unter dem Titel "Morals & Machines" sprach die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Berlin mit Sophia, einem weiblichen Roboter mit schwarzem Kostüm und dunkelviolettem Hemd. Sophias hintere Schädeldecke ist aus Plexiglas, darunter sind bunte Kabel, Schaltelemente und blinkende LED-Lampen zu sehen: "Sag mal Sophia, bist Du eigentlich ein Vorbild?" "Das hoffe ich", antwortete Sophia. Als Merkel dann von der Herausgeberin des deutschen Wirtschaftsmagazins "Wirtschaftswoche", Miriam Meckel, in einem anschließenden Interview gefragt wird, ob Sophia irgendwann in Zukunft auch Rechte brauche, "so wie wir", antwortet die studierte Physikerin trocken: "Stromzufuhr? Oder was ist das Recht des Roboters? Oder ein Recht auf Wartung?" Merkel löst mit ihrer Antwort Heiterkeit im Publikum aus. Die deutsche Kanzlerin fährt fort: "Ich möchte nicht, dass wir nur Watson oder Sophia haben, sondern auch deutsche Roboter dieser Art." Deutschland hätte weiter eine Chance in der IT-Hochtechnologie, "besonders im Internet der Dinge. Da müssen wir schnell rein." Dafür müsse Deutschland durchaus manchmal radikale Wege gehen. "In den USA ist die Kontrolle über Personendaten zum größten Teil privatisiert. In China ist das Gegenteil der Fall: Dort hat der Staat das übernommen. Und genau dazwischen muss Europa seinen Platz finden." Doch wo genau soll Europa sich positionieren, zwischen Überwachungskapitalismus und der digitalisierten Diktatur?
Den Europäern, so schrieb das britische Wirtschaftsmagazin "Economist" vor wenigen Monaten, dämmere langsam, dass "Künstliche Intelligenz (K.I.) genauso wichtig für die Zukunft sein könnte, wie andere grundlegende Technologien, etwa Elektrizität oder die Dampfmaschine." Einige europäische Länder arbeiten bereits K.I.-Strategiepapieren, Finnland, Frankreich, aber auch Deutschland, das die Anstrengungen in diesem Bereich mit rund drei Milliarden Euro dotiert. Die Europäische Union hat ebenfalls einen "Koordinierten Plan für Künstliche Intelligenz". Damit Europa aufholt, so ist in diesem Strategiepapier zu lesen, seien "ehrgeizige, aber realistische Ziele gesetzt worden: Unionsweit müssen öffentliche und private KI-Investitionen gesteigert werden, damit das Ziel von 20 Milliarden Euro pro Jahr über die nächsten zehn Jahre erreicht wird", heißt es in dem EU-Papier.
Europas fragmentierte Märkte
Und in Österreich gab es bereits Expertenmeetings, die Bundesministerien für Verkehr, Innovation und Technologie und für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort haben vor sechs Monaten das Papier "Artificial Intelligence Mission Austria 2030" vorgestellt. Darin heißt es, dass die Forschung in diesem Technologiebereich verstärkt werden soll und entsprechende Fachkräfte ausgebildet werden müssen. Ein rascher Ausbau des superschnellen Mobilfunknetzes 5G wird in dem Papier ebenso gefordert, wie der rasche Einsatz von K.I. im öffentlichen Sektor und der Wirtschaft. Gleichzeitig sollen ethische Fragen und die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt bedacht werden, die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz künstlicher Intelligenz müssten.
Gegen die ehrgeizigen Pläne, die überall in Europa aus dem Boden sprießen, spricht, dass Europa alles andere als offen für neue, disruptive Technologien ist. Vielen Managern fehlt es an Fantasie und Wagemut und den Investoren an Risikobereitschaft. Zudem: Europa ist ein fragmentierter Markt - es gibt in der EU derzeit noch 28 Mitgliedsstaaten (nach dem Brexit 27), die Bürgerinnen und Bürger der EU verwenden 24 unterschiedliche offizielle Sprachen.
Und weil die Märkte der USA und Chinas homogener sind, verfügen die IT-Konzerne in diesen Ländern über viel mehr Daten als ihre europäischen Konkurrenten.
Es gibt aber Bereiche, wo Europa die Nase vorn hat: Deutschland hat die höchste Zahl an Patenten, wenn es um autonomes Fahren geht. Oder: Kleinere, agilere Unternehmen haben zwar weder das Kapital noch die Marktmacht der großen koreanischen Chaebol-Mischkonzerne, der chinesischen Mega-Konzerne oder der US-Riesen-Corporations.
Und auch die in Europa immer wieder beklagte Regulierung muss nicht unbedingt ein Nachteil sein: Während in China und den USA Datenschutz und Technologiefolgen wenig Beachtung finden, sind Europas Regulatoren gut vorbereitet - und könnten somit Industriestandards setzen, wie das derzeit mit der EU-Datenschutzrichtline (GDPR) passiert.
Wenn also das Zusammenspiel in Europa funktioniert, dann kann die Europäische Union in Schlüsselindustrien nicht nur mithalten, sondern sogar den Takt vorgeben: In den 80er Jahren ging in Deutschland und Frankreich die Sorge um, bald von Japan überholt zu werden. Etwas musste geschehen. Und schon 1984 standen Frankreichs Präsident François Mitterrand und Deutschlands Kanzler Helmut Kohl Pate, als der EU-weite Mobilfunkstandard GSM aus der Taufe gehoben wurde. Jahrezehntelang dominierten europäische Konzerne wie Ericcson (Schweden) und Nokia (Finnland) den Markt - und werden heute bei 5G, der nächsten Telekommunikationsrevolution von Huawei (China) herausgefordert, während die USA abgeschlagen sind.
Aber kann die EU auch in anderen Tech-Bereichen an den Erfolg von GSM anknüpfen? Nur dann, wenn sich die Mitgliedsstaaten auf Zusammenarbeit verständigen und Ressourcen poolen - einmal mehr ist ein europäischer Geist gefordert.