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Europas schwierige Standortbestimmung

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Der Start der ersten zwei Satelliten des Galileo-Systems leitet eine neue Ära ein.


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Kourou/Brüssel. Um die Jahrtausendwende machten sich die EU-Spitzenpolitiker gedanklich daran, den Weltraum zu erobern. Ein eigenes globales Satellitenortungssystem sollte es sein, unabhängig vom militärisch geführten Global Positioning System (GPS) der USA. Denn GPS könnte schließlich im Kriegsfall - Stichwort: Irak - teilweise ausgeschaltet werden, die Folgen für den Verkehr per Auto, Schiff oder Flugzeug wären verheerend, befürchteten Experten während der anfänglich von Euphorie getragenen Planungsphase des EU-Prestigeprojekts Galileo. Viel genauere Standortbestimmungen, zuverlässigere Signale und lukrative Spezialdienste versprachen sich die Weltraumstrategen der Union, einen Technologie-Vorsprung gegenüber der restlichen Welt.

Doch erst nach zahlreichen Rückschlägen, Budgetaufstockungen und Verzögerungen soll es heute, Donnerstag, tatsächlich soweit sein: Die ersten beiden operativen Galileo-Ortungssatelliten sollen vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana den Weg ins All antreten. Der Jungfernflug ist eine doppelte Premiere: Befördert werden die beiden Satelliten nämlich von einer russischen Sojus-Rakete, die erstmals aus dem südamerikanischen Dschungel statt der kasachischen Steppe abhebt. Weil Kourou näher am Äquator liegt als Russlands Weltraumbahnhof Baikonur, kann die Sojus von dort wegen der besser ausgenutzten Erdrotation mit mehr Schwung ins All starten und daher mehr Gewicht mitführen oder Sprit sparen. Die ungewöhnliche Kooperation zwischen der Europäischen Weltraumagentur ESA und dem Kourou-Betreiber Arianespace einerseits und den Russen andererseits soll die Kosten für den Aufbau von Galileo deutlich senken und eröffnet auch abseits davon neue Geschäftsmöglichkeiten. Mit der Sojus neben der hauseigenen Ariane V im Portfolio können Satelliten aller Größenklassen zu konkurrenzfähigen Preisen in den Orbit gesetzt werden.

Teilbetrieb ab 2014

Das EU-Satellitennavigationssystem selbst wird zwar trotzdem viel teurer als ursprünglich angenommen. Zuletzt konnten die Kosten durch strikte Ausschreibungsbedingungen überraschenderweise aber noch einmal um 500 Millionen Euro gegenüber den zwischenzeitlichen Spitzenprognosen gedrückt werden. Statt der anfangs veranschlagten 3,4 Milliarden Euro wird jetzt bis 2013 aber immer noch mit fünf Milliarden Euro gerechnet. Ab 2014 will die EU-Kommission eine Milliarde Euro pro Jahr für den weiteren Ausbau und den Betrieb aus dem EU-Haushalt haben - das macht bis inklusive 2020 ein Projektbudget von zwölf Milliarden Euro. Schon 2014 sollen 18 Satelliten im Orbit kreisen und drei der fünf möglichen Dienste verfügbar sein. Die vier ersten Trabanten wurden bei der deutschen EADS-Tochter Astrium in Auftrag gegeben, die zweite Tranche soll nach der heutigen Premiere nächstes Jahr ins All geschossen werden. Die folgenden 14 Stück bauen die Raumfahrtexperten von OHB-System AG in Bremen.

Der neue Zeitplan gilt als Erfolg, weil es lange nach noch dramatischeren Verzögerungen ausgesehen hat. Schon 2008 hätten ursprünglich mehr als 30 Satelliten in der Umlaufbahn sein sollen. Die Endausbaustufe mit exakt 30 EU-Trabanten setzt die EU-Kommission aktuell für 2018 oder 2019 an, was immer noch mindestens zehn Jahre später ist. Mit der eingeschränkten Funktionsfähigkeit ab 2014 ist Galileo aber zumindest knapp vor dem chinesischen Compass-System dran, dass ein Jahr später in Betrieb gehen soll. Bis GPS auf die dritte Generation aufgerüstet hat, wäre Galileo die technisch modernste und präziseste Variante.

Bei der Beförderung ins All sind die Europäer aber auf die Russen angewiesen. In mühevoller Kleinarbeit wurde die Abschussrampe für die Sojus im guyanischen Dschungel nachgebaut. Seit dem Wochenende ruht die 50 Meter hohe Rakete mit den beiden Galileo-Satelliten in Startposition. Die Sojus wurde seit ihrem ersten Start 1957 immer wieder weiterentwickelt, trug einst den russischen Kosmonauten Juri Gagarin als ersten Menschen ins Weltall und gilt als eine der zuverlässigsten Raketen. Seit der Einstellung des US-Shuttle-Programms ist sie auch das Rückgrat für die Versorgung der internationalen Weltraumstation ISS.

Für Arianespace und Galileo sinken die Kosten durch den russischen Träger deutlich. Denn die Ariane V ist wesentlich größer und teurer als das russische Pendant. Konzipiert wurde sie für den Transport von Telekom-Satelliten, die mehr als 2,5 Tonnen wiegen. Platz hätte Europas Großrakete daher locker für vier der bloß 750 Kilo leichten Galileo-Satelliten. Da das Zusatzmodul, mit dem sie vier Satelliten pro Start aussetzen kann, aber nicht vor 2014 verfügbar ist, könnte die Ariane bis zu diesem Datum nur zwei Galileo-Einheiten ins All bringen. So viel schafft auch die Sojus, deren Startkosten mit 65 bis 70 Millionen Euro allerdings um die Hälfte billiger sind.

Keine Kostendeckung

Dass Galileo in absehbarer Zeit kostendeckend arbeiten könnte, glaubt die Kommission inzwischen übrigens nicht mehr. Da habe es zu Beginn unrealistische Erwartungen gegeben, heißt es heute. An diesen ist 2007 auch ein Industriekonsortium aller europäischen Unternehmen gescheitert, die in der Satellitenbranche eine größere Rolle spielen. EADS, die französischen Konzerne Thales und Alcatel, die italienische Finmeccanica, die spanischen Gruppen Aena und Hispasat, die britische Inmarsat und das deutschen Konsortium TeleOp hätten gerne saftige Gewinne eingestrichen, hatten aber keine Lust, das allfällige Risiko zu tragen.

Die Projektleitung wurde daher kurzerhand von der EU-Kommission übernommen, die den Schritt mit dem allgemeinen öffentlichen Interesse an dem europäischen Satellitensystem begründete. Für die Wirtschaft und die Gesellschaft gibt es nach Meinung der EU-Kommission nämlich handfeste Vorteile, die sie binnen der ersten 20 Betriebsjahre auf bis zu 90 Milliarden Euro schätzt: zum Beispiel Stauvermeidung durch akkurate Satellitennavigation oder präzisere Organisation von Starts und Landungen auf Flughäfen, die eine effizientere Aufteilung der Slots ermögliche, erklärt ein EU-Experte.

Unbezahlbar sei die Rettung von Menschenleben durch den "Search+Rescue"-Dienst, der bereits ab 2014 die Suche nach verunglückten und vermissten Personen erleichtern soll. Schon lange ist zudem klar, dass auch die Streitkräfte der EU-Staaten Galileo nutzen werden können. Anfangs sollte das EU-System nicht nur zivil kontrolliert, sondern auch nur zivil genutzt werden.

Erst nach und nach bemerken wird der Alltagsnutzer den Start des neuen Satellitennavigationssystems in drei Jahren - wenn der aktuelle Zeitplan hält. Denn schon heute unterstützt der "kleine Bruder" von Galileo, das Funkantennensystem Egnos, die möglichst genaue Standortbestimmung mittels des selbst nicht so präzisen GPS. Zudem wird Galileo mit den Konkurrenten - neben GPS ist das vor allem das russische Glonass-System - kompatibel sein, damit für den Endkunden immer der beste Empfang gewährleistet ist. Wegen des üblicherweise raschen Wechsels der mobilen Navigationssysteme rechnet die Kommission damit, dass 2014 rund 95 Prozent aller Geräte automatisch das Galileo-Signal des "offenen Dienstes" empfangen können.

Probleme mit China

Probleme gibt es jedoch noch beim dritten für 2014 angepeilten Dienst, dem sogenannten "öffentlich regulierten Dienst". Diese Signale könnten Mitgliedstaaten für Polizei, Feuerwehr oder das Militär nutzen. Allerdings gibt es hier etwas, das von den Galileo-Verantwortlichen als "gewisses Risiko einer Frequenzüberlappung" mit dem chinesischen Compass-System beschrieben wird. Im Klartext heißt das: Auch Peking will die sichere Frequenz haben. Doch so weit wie die EU-Strategen und Techniker bereits gekommen sind, wollen sie sich davon nicht mehr stoppen lassen. Eine Vereinbarung mit den Chinesen werde rechtzeitig stehen, sagt ein hochrangiger EU-Beamter. Der Traum von der EU-Präsenz im Weltraum war nie lebendiger als jetzt.