Russland präsentierte sich im Lauf der Geschichte immer wieder als Alternativmodell - und hatte damit auch Erfolg.
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An die hunderttausend russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine, monatelanges Säbelrasseln, Ängste, dass die europäische Friedensutopie, in der man es sich spätestens seit 1991 wohlig eingerichtet hat, jäh beendet werden könnte: Gut 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, der damals Optimisten als ein Auftakt zu einer Art ewigen Frieden erschien, herrscht in Europa wieder Furcht vor. Es ist eine altbekannte Furcht: die Angst vor Russland, vor der Großmacht im unwirtlichen Osten, dem Riesenreich zwischen Ostsee und Pazifik. Vor jenem Staat, der als UdSSR über Jahrzehnte die Hälfte Europas beherrschte - neben der transatlantischen Supermacht USA.
Doch während Letztere gewissermaßen Fleisch vom Fleisch des liberalen Europa war, eine Macht, die als "Neue Welt" den Anspruch erhob, die Freiheitsversprechen des alten Kontinents zu erfüllen, gestaltete sich das Verhältnis Europas zu Moskau oder St. Petersburg stets komplizierter. Schon geografisch umfasst Russland große Teile Europas, dehnt sich aber auch weit nach Asien aus. Kulturell fühlt man sich Europa verwandt, was auch daran ablesbar ist, dass die Moskauer Eliten trotz aller Konfliktrhetorik ihre Urlaube am liebsten in Europa verbringen, ihre Kinder in Europa studieren lassen und sich generell an der europäischen - und nicht etwa der chinesischen - Konsumgesellschaft orientieren.
Nicht nur Russlandkritiker verweisen aber auch immer wieder auf tief sitzende Unterschiede: Etwa auf die Kontinuität autoritären Regierens in Russland, die historisch erklärt wird: Die Moskauer Großfürsten wären lange von Europa abgeschnitten und den Mongolen tributpflichtig gewesen. Von dort, heißt es, hätten sie auch die Herrschaftstechniken übernommen.
Verwestlichung mit dem Hammer
Die ebenso schwierige wie innige Beziehung Europas zu Russland hat tatsächlich tiefe Wurzeln. Man war über Jahrhunderte vereint durch das christliche Bekenntnis und sich deshalb nicht völlig fremd, aber auch getrennt durch den konfessionellen und kulturellen Graben zwischen lateinischer und griechisch-orthodoxer Welt. Russland bezog sich immer wieder auf Europa, erklärte Moskau, nachdem Konstantinopel den Türken in die Hände gefallen war, zum "Dritten Rom". Die moskowitischen Zaren erhoben sich und ihren Staat damit zu einem Modell - auch für Europa. Im Gegensatz zum Westen, so meinte man, verfüge man über den rechten Glauben, der den Weg zum ewigen Seelenheil weise. Russland wurde zu einer Art alternativem Europa.
Spätestens im Zeitalter der beginnenden Aufklärung konnte man jedoch auch in Moskau nicht übersehen, dass sich das Zarenreich gegenüber dem zivilisiert-barocken Kontinent in einem Entwicklungsrückstand befand. Es war Peter der Große, der in einem Gewaltakt Russland der westlichen Moderne zu öffnen suchte. Mithilfe der überkommenen autoritären Herrschaftsmethoden setzte man eine Art Imitation des Westens in Gang. Mit St. Petersburg ist die Verwestlichung Russlands Stein geworden: Die neue Hauptstadt wurde in kürzester Zeit aus dem sumpfigen Boden nah der Ostsee gestampft. Russland wurde eine europäische Großmacht - zumindest äußerlich. Militärische Siege sorgten dafür, dass das früher entfernt gelegene Land auch machtpolitisch aus Europa nicht mehr wegzudenken war.
"Gendarm Europas"
Gegenmodell blieb Russland dennoch - besonders, als sich in Europa nach dem aufgeklärten Absolutismus kurzzeitig die Prinzipien der Französischen Revolution durchsetzten. Für das multinationale, autoritär regierte Russland waren die Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit purer Sprengstoff. Der Blutrausch, in dem die Revolution von Paris endete, tat sein Übriges: Nach der Niederringung Napoleons galt der russische Zar als "Gendarm Europas", der über die Einhaltung der Ordnung des Wiener Kongresses wachte. Und das auch im Inneren, wo man immer wieder mit Aufständischen zu tun hatte, die von europäischen Ideen "infiziert" waren. Der russische Zar war für liberale Westeuropäer die Personifikation von Rückständigkeit und Reaktion.
Mit der Oktoberrevolution änderte sich das plötzlich. Mit einem Schlag verkündete Russland, nicht länger von gestern, sondern im Gegenteil progressiv und fortschrittlich zu sein. Für viele links geprägte Europäer war das so lange verpönte Land plötzlich ein lockendes Gegenmodell zum alten Europa, das im Ersten Weltkrieg abgewirtschaftet hatte. Russland war jetzt nicht länger Hort der Reaktion, sondern ein Zukunftsversprechen: Der erste sozialistische Staat erhob - ähnlich den USA - den Anspruch, die Versprechen Europas nach einem funktionierenden Utopia einzulösen.
Plötzlich "fortschrittlich"
Die zahllosen Verbrechen der Kommunisten, ihre brutalen Methoden, die die Repression des Zaren weit übertrafen, wurden dabei bei vielen "Gläubigen" im Westen geflissentlich übersehen. Selbst Massenmorde wie den Holodomor in der Sowjet-Ukraine wollten die meisten westlichen Beobachter nicht zur Kenntnis nehmen - hätten sie doch das Bild, das man sich zurechtgelegt hatte, zerstört. Russland verkörperte die Zukunft, das bessere, strahlende, fortschrittliche Europa.
Bekanntlich hielt diese Potemkin’sche Illusion nicht ewig. Lange bevor die UdSSR zerbrach, war auch in Moskau der Kommunismus mausetot. Das neue Russland schickte sich in den 1990er Jahren an, erneut Europa zu imitieren. Der Wunsch, endlich wieder dazuzugehören, war weit verbreitet. Das Scheitern der Reformpolitik unter Ex-Präsident Boris Jelzin verdüsterte das Bild aber rasch. Dass sich US-Präsident Bill Clinton in den 1990er Jahren auch aus innenpolitischen Gründen (es ging um die Stimmen osteuropäischer Einwanderer) für die Nato-Osterweiterung entschied, wurde in Moskau zwar hingenommen - aber mit deutlich vernehmbarem Groll, ebenso wie das Bombardement auf Belgrad 1999.
Putin ideologisch flexibel
Mittlerweile tritt Russland gegenüber Europa wieder als Gegen- und Alternativmodell auf. Ideologisch zeigt man sich unter Präsident Wladimir Putin dabei höchst flexibel - erlaubt ist, was Russland nützt: So zeigt Moskau keine Berührungsängste zu Rechtsaußenparteien in Europa. Frankreichs Marine Le Pen pflegt ebenso gute Kontakte zum Kreml wie die deutsche AfD oder die heimische FPÖ. Andererseits nützt Russland auch die immer noch guten Kontakte zu ex-kommunistischen Linksparteien und unterstützt das Regime im sozialistischen Venezuela.
Dass sich in Europas kulturellen und politischen Eliten ein linksliberaler Konformismus ausbreitete, erwies sich für Russlands Präsident Wladimir Putin als Glücksfall: Mit seiner Kritik an allzu liberaler Migrations- und Genderpolitik konnte er bei europäischen Konservativen punkten - noch bevor Ungarn und Polen innerhalb Europas zu Gegenmodellen wurden. Der tradierte russische Konservatismus erwies sich plötzlich nicht als Klotz am Bein, sondern als ein mögliches Atout.
"Denken in Einflusssphären"
Mittlerweile verfügt der Westen nicht mehr über die Kraft, die von ihm geprägte Weltordnung aufrechtzuerhalten. Der Aufstieg Chinas absorbiert die Kräfte der USA, die gezwungen sind, sich dem pazifischen Raum zuzuwenden. Russland gewinnt wieder an Selbstbewusstsein und lässt die Muskeln spielen.
In Europa wird damit die Frage wieder neu aufgeworfen: Wie umgehen mit Russland, mit diesem Land, das viele schreckt, einige aber auch romantisch anzieht? Die Fronten gehen dabei quer durch die politischen Lager. Konservative vom alten Schlag treten zusammen mit linksliberalen Anhängern einer offensiven Menschenrechtspolitik für eine Politik der Abschreckung gegenüber Moskau ein. Sie verweisen auf das Recht der an Russland grenzenden osteuropäischen Staaten, ihr Schicksal selbst zu bestimmen - ohne Vormund im Kreml. Und sie werfen Russland vor, in Großmachtkategorien des 19. Jahrhunderts und in Einflusssphären zu denken. Dies sei im 21. Jahrhundert längst überwunden.
Renaissance der Geopolitik?
Ein Befund, dem auf der Linken wie der Rechten widersprochen wird: Das Denken in Großmachtkategorien, heißt es, sei nicht verschwunden (und, wie Rechte meinen, auch nicht aus der Welt zu bannen). Ganz im Gegenteil finde eine Renaissance geopolitischen Denkens statt. Mit der Ausdehnung seiner Einflusssphäre betreibe der Westen selbst Machtpolitik und dürfe sich daher nicht über eine Gegenreaktion wundern. Die Politik der Stärke, heißt es, habe erst selbst jene Probleme hervorgerufen, für die sie sich als Lösung anbietet.
Ob das stimmt, bleibt Gegenstand der Spekulation. Wog der Schmerz nach dem Verlust des Imperiums so schwer, dass sich der Revanchismus in Russlands Eliten auch dann herausgebildet hätte, wenn sich der Westen nicht gen Osten ausgedehnt hätte? Oder hätte eine stärkere Rücksichtnahme auf russische Empfindlichkeiten, aber auch geopolitische Interessen des Kremls den neuen Kalten Krieg abgewendet, der jetzt unausweichlich scheint? Wissen wird man es nie. Sicher ist aber eines: Russland ist heute wieder das, was es so oft in seiner Geschichte war - ein Gegenmodell zu Europa.