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Europas Thatcher-Moment

Von Christian Ortner

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Christian Ortner.

Der Wohlfahrtsstaat beruhte seit Jahrzehnten auf stetig steigenden Schulden, um die Wähler bei Laune zu halten. Damit ist nun auf lange Zeit Schluss.


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Das Problem mit dem Sozialismus, feixte einst die britische Regierungschefin Margaret Thatcher boshaft, "ist, dass einem irgendwann das Geld der anderen Leute ausgeht". Seither haben freilich in ganz Europa nicht nur Sozialisten, sondern praktisch alle Parteien "das Geld anderer Leute" - nämlich der Gläubiger, also der Käufer von Staatsanleihen - ausgegeben. Primär um den Wohlfahrtsstaat von Wahlperiode zu Wahlperiode weiter auszubauen und so die Mehrheit der Wähler bei Laune zu halten; zuletzt natürlich auch, um das Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren.

Doch nun scheint endgültig der "Thatcher-Moment" gekommen: Den Regierungen geht das Geld der anderen aus, weil diese nicht mehr so ohne weiteres bereit sind, Kredit an überschuldete Gläubiger zu geben. Dem bankrotten Junkie in der Nebenwohnung borgt man ja auch nicht 1000 Euro für neuen Stoff.

Genau das aber spielte sich diese Woche an Europas Geldmärkten ab: Nicht nur die üblichen Verdächtigen unter den Schuldenstaaten, sondern sogar das vergleichsweise kreditwürdige Deutschland hatten erhebliche Schwierigkeiten, sich Geld auszuborgen. Die Gläubiger wollen einfach nicht mehr zahlen.

Damit steht Europa (ebenso wie die USA oder Japan) vor einem Paradigmenwechsel mit ganz erheblichen Konsequenzen. Denn seit 1945 stieg die Verschuldung der Staaten im Großen und Ganzen praktisch ununterbrochen an: Unter Sparen versteht man im Milieu des Wohlfahrtsstaates und seines politischen Managements nämlich bloß, weniger zusätzliche Schulden aufzunehmen.

So wurde zwar ein noch nie dagewesener (Massen-)Wohlstand geschaffen, doch dieses Geschäftsmodell muss irgendwann an seine Grenzen stoßen. Auch eine Familie kann grundsätzlich jedes Jahr neue Schulden aufnehmen - aber eben nicht eine unbegrenzte Anzahl von Jahren. Irgendwann erzwingen die Gläubiger ein Ende dieses Prozesses.

Irgendwann ist jetzt. Daher werden sich Europas Sozialstaaten und ihre Politiker auf ihnen völlig neue Spielregeln einstellen müssen. Weil die Gläubiger den Staaten nicht mehr so ohne weiteres Jahr für Jahr neuen zusätzlichen Kredit geben werden, kann das Konzept des Wohlfahrtsstaates zu Lasten und auf Rechnung der Zukunft so nicht aufrechterhalten werden. Diese Party der politischen "Susi-Sorglos-Systeme" ist auf viele Jahre vorbei; sehr zum Kummer übrigens auch der Finanzindustrie, die daran ja nicht schlecht verdiente.

Auch ein zweites wesentliches Feature des Sozialstaates dürfte mangels Kreditnachschubs eingehen: die Neigung, Wachstumsschwächen der Wirtschaft regelmäßig durch Abwerfen von (ausgeborgten) Milliarden zu verhindern. Auch das wird in Zukunft nur noch in wesentlich bescheidenerem Ausmaß möglich sein.

Das heißt: Selbst wenn ein unkontrollierter Kollaps des Finanzsystems verhindert werden kann, liegen Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte vor uns, in denen die Wirtschaft (zumindest real) kaum wachsen wird, eine in der Nachkriegsgeschichte einmalige Situation. Aber irgendwann, da hat Thatcher recht, geht einem eben das Geld der anderen Leute aus.

ortner@wienerzeitung.at