Einblicke in die Flüchtlingsproblematik auf Lesbos.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Nach 2016 war ich diesen Sommer zum zweiten Mal auf Lesbos. Im vergangenen Jahr sind ja in den deutschen Medien eine ganze Reihe von Artikeln über den "Hotspot" Moria erschienen, mit dem Grundtenor, die dortigen Zustände seien katastrophal. Das ist bestimmt nicht verkehrt, aber damit hat man die Flüchtlingsproblematik auf Lesbos noch nicht ausreichend verstanden. Zum einen spielt das Umfeld von Moria bis hinein nach Mytilini eine große Rolle. Zum anderen muss man sich bewusst machen, wie die Insel mittlerweile aufgeteilt ist in Bereiche für die Touristen und für die Flüchtlinge.
An der Nordküste von Lesbos, die sich von Molivos und Petra im Westen über Eftalou, Skala Sikamineas, den Leuchtturm von Karakas bis Tsonia im Osten erstreckt, kamen im Herbst 2015 die meisten Flüchtlinge an. Molivos und Petra bilden aber auch das Zentrum des Tourismus auf Lesbos. 2016 ging dort der Tourismus um 80 Prozent zurück. Nach wie vor kommen an der Nordküste Flüchtlinge an, im Durchschnitt drei Boote pro Tag.
Bereits 2016 konnte ich mich bei zwei Landungen davon überzeugen, wie eingespielt die Zusammenarbeit zwischen NGOs, Polizei und Küstenwache ist. Nach der Versorgung mit dem Nötigsten werden die Flüchtlinge möglichst bald in "Stage Two" oberhalb von Skala Sikamineas gebracht. "Stage Two" wird vom UNHCR und der NGO Lighthouse Relief betrieben. Das Lighthouse Camp (vormals "Stage One") am Strand von Skala Sikamineas musste auf Druck des griechischen Staates im Juli 2017 geräumt werden. An der Straße von Skala Sikamineas nach Mandamados gibt es bei der Abzweigung nach Klio eine alte Käsefabrik, die mittlerweile von der NGO Borderline genutzt wird und bei Bedarf ebenfalls zur kurzzeitigen Unterbringung von Flüchtlingen dient.
Keine Flüchtlinge in der Nähe der Urlaubsorte im Norden
Aber schon nach kurzer Zeit werden alle Flüchtlinge ins Camp Moria bei Mytilini gebracht. Das hat den erwünschten Effekt, dass man insbesondere in der Gegend von Molivos überhaupt keine Flüchtlinge zu sehen bekommt. Ich habe zumindest in den zwei Wochen, in denen ich im Norden von Lesbos war, keinen einzigen zu Gesicht bekommen. Dann gibt es noch einen Schandfleck außerhalb von Molivos, etwas versteckt in den Bergen gelegen. Auf diesem "Friedhof der Rettungswesten" liegen zigtausende Rettungswesten, zerschnittene Schlauchboote, Schiffswracks und anderer Abfall bereits seit mehreren Jahren und verwittern vor sich her. Aber dort, abseits der Touristenströme, stört das keinen. Nach einhelliger Meinung hat sich der Tourismus hier gegenüber 2016 auch wieder positiv entwickelt.
Von den rund 10.000 Flüchtlingen auf Lesbos befinden sich gut 8500 im Camp Moria. Vor zwei Jahren musste man von Mytilini noch mit dem Bus ins etwa sieben Kilometer entfernte Dorf Moria (1450 Einwohner) fahren, durch das Dorf hindurchgehen, dann über Felder hinweg, bis man zum ehemaligen Militärcamp Moria gelangte, inmitten von Olivenhainen. Heute lässt der Bus das Dorf Moria links liegen und fährt direkt zum Camp. Wegen der Menschenmassen sind die Busse oft hoffnungslos überfüllt. Noch 2016 waren alle Flüchtlinge innerhalb des mit hohen Mauern und Stacheldraht gesicherten Militärkomplexes untergebracht. In diesen offiziellen Teil kommt man als Nicht-Flüchtling nur über eine dort aktive NGO hinein. Das überfüllte Camp ist mittlerweile aufgeteilt in drei geschützte Bereiche: Sektion A für Familien, Sektion B für Single-Männer und Sektion C für Single-Frauen. Eine junge Afghanin, die in Sektion C lebt und davon erzählte, machte nicht den Eindruck, als fühlte sie sich dort als Frau unsicher.
"Wilder Bereich" außerhalb des überfüllten Camps Moria
Das Camp ist aber viel zu klein für alle Flüchtlinge. Daher gibt es außerhalb, mitten in den Olivenhainen, einen "wilden" Bereich. Zelt an Zelt und nur mit dürftigsten sanitären Anlagen leben hier viele Familien auf engstem Raum. Im Sommer und kurzfristig mag das ja angehen, aber langfristig (ohne Perspektive) und im Winterhalbjahr kalt und verschlammt, hört der Spaß schnell auf. In vielen Gesprächen mit Flüchtlingen hat kein einziger auch nur ein gutes Wort über Moria gesagt. Vom frei begehbaren "wilden" Bereich aus kann man erahnen, dass es mit der Versorgungslage in Moria nicht weit her sein kann.
In der Gegen gibt es noch zwei weitere Camps. Auf halber Busstrecke zwischen Mytilini und Moria gelangt man oberhalb von Lidl zum Camp Kara Tepe. Es wird von der Stadt Mytilini betrieben, beherbergt aber nur Familien, insgesamt 250 Flüchtlinge. Das Pikpa Camp am anderen Ende von Mytilini, kurz vor dem Flughafen, betreibt die NGO Lesvos Solidarity. Hier kommen maximal 100 Personen unter, insbesondere sehr verletzliche Flüchtlinge. Über beide Camps ist eigentlich nur Gutes zu hören.
Ganz in der Nähe von Kara Tepe betreibt das Hope Project drei Lagerhallen. Das Herzstück ist eine Kleiderkammer, in der ich neben 12 bis 15 Personen als Volunteer mitgearbeitet habe. Die meisten von ihnen sind (ehemalige) Flüchtlinge aus Nahost oder Afrika. Ein Teil von ihnen lebt auch im Camp Moria, dort halten sie regelmäßig Ausschau nach neu angekommenen Flüchtlingen und verteilen Gutscheine, also Einladungskarten mit Datum, an dem diese sich und ihre Familien in der Kleiderkammer mit Gewand und Hygieneartikeln versorgen lasen können. In der angegliederten mobilen Küche gibt es eine warme Mahlzeit.
Ebenfalls in Fußnähe von Kara Tepe befindet sich "One Happy Family", kein Lager, sondern ein Gemeinschaftszentrum. Es wird von einer Schweizer NGO betrieben. Montags bis samstags ab 12 Uhr kommen bis zu 800 Flüchtlinge hierher. Dazu gehört auch eine Schule, die eine israelische NGO betriebt, in der 300 Flüchtlingskinder unterrichtet werden. Für alle gibt es hier um 16 Uhr ein kostenloses Mittagessen. Ansonsten werden zahlreiche Aktivitäten angeboten, wie Basketball, Boxen, Schach, es gibt aber auch Ruheräume, eine Bibliothek und einen Gemüsegarten für die Küche.
Es gibt viele NGOs am Camp Moria, im weiteren Umfeld oder in Mytilini, die sich um Flüchtlinge kümmern. Aber allein schon diese beiden Beispiele, "The Hope Project" und "One Happy Family", zeigen sehr deutlich, dass die Versorgung der Flüchtlinge in Moria selbst nicht zufriedenstellend sein kann. Um das Camp herum gibt es mehrere mobile Kantinen. In einer davon bin ich mit mehreren Palästinensern und Syrern ins Gespräch gekommen. Das fand ich erstaunlich, da man in den deutschen Medien eigentlich nie davon hört, dass auch Palästinenser flüchten. Aber das mag daran liegen, dass Deutschland nach wie vor ein gestörtes Verhältnis zu Israel hat. Einer der jüngeren Palästinenser meinte, er habe keine Angst davor, in die Türkei abgeschoben zu werden - weil nämlich eine Abschiebung nach Palästina, das kein anerkannter Staat ist, gar nicht möglich sei.
NGOS als "nützliche Idioten" ins System eingebunden
Der englische Begriff "Hotspot" ist ja im deutschsprachigen Raum relativ nichtssagend. Ehrlicher wäre es, Moria als Lager zu bezeichnen, in dem unerwünschte Menschen - in diesem Fall Flüchtlinge - konzentriert werden, um sie besser unter Kontrolle und räumlich begrenzt zu halten. Sie also möglichst fernab der touristischen Ziele auf Lesbos unterzubringen. Um dies zu erreichen, sind NGOs in dieses System mit eingebunden, machen es dadurch halbwegs stabil. Sie machen sich dadurch ein Stück weit zu "nützlichen Idioten", denn eigentlich wollen sie solch einen Zustand nicht beziehunsgweise auch nicht aufrechterhalten.
Wohlgemerkt: Aus humanitären Gründen ist das Engagement der NGOs auf Lesbos zwingend notwendig. Ein Flüchtling aus Moria hat dazu festgestellt, dass es hier viele NGOs gebe - aber eigentlich bräuchten sie eine, die sie hier herausholen könnte. Die Konzentration der Flüchtlinge auf Moria führt natürlich auch dazu, dass man in der umliegenden Gegend, also auch in Mytilini, viele Flüchtlinge sieht. Das wird billigend in Kauf genommen, ist doch Mytilini als Hafen- und Hauptstadt von Lesbos, mit dem nahen Flughafen, ohnehin daran gewöhnt, dass Fremde hier durchkommen. Dieses multikulturelle Flair trüben nur durch gelegentliche "Fuck Islam"-Graffiti in den Straßen von Mytilini. Auf der anderen Seite könnte man sich aber auch gestört fühlen durch die vielen bettelnden Flüchtlingskinder in der Stadt.
Es gibt ein weiteres Projekt in Mytilini, das Hoffnung macht. Mitten im Zentrum haben vier geflüchtete Frauen gemeinsam mit Leuten von NGOs und Einheimischen das Restaurant "Nan" gegründet. Diese Art der Selbsthilfe will die Menschen zusammenbringen, aber auch die Flüchtlinge selbst hier in der Stadt besser integrieren. Die Küche ist griechisch und orientalisch, mehrere Flüchtlinge arbeiten und kochen hier. Ansonsten finden sie hier kaum Arbeit.
Feindschaften zwischen manchen NGOs
Viele der NGOs auf Lesbos arbeiten gut zusammen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige NGOs einander spinnefeind sind. In mehreren Gesprächen habe ich immer wieder Vorwürfe gehört, die Mitarbeiter der jeweils anderen NGO würden sich gute Gehälter zahlen. Immerhin erhält der griechische Staat von der EU für jeden Flüchtling 21.000 Euro pro Jahr. Davon werden auch NGOs bezahlt. Hinzu kommen viele Spendengelder. NGO-Mitarbeitern wird auch vorgeworfen, Fotos oder Filme von Flüchtlingen in Notsituationen zu machen und zu vermarkten. Der Vorwurf ist prinzipiell immer der gleiche: Die anderen NGOs verdienen an den Flüchtlingen beziehungsweise tun nichts für das Geld, das sie vom Staat erhalten.
Auch bei den Griechen haben die NGOs, insbesondere die ausländischen, einen sehr schlechten Ruf, weil sie in deren Augen zu wenig für die Flüchtlinge tun. Sie sollten sich lieber in ihren Heimatländern dafür einsetzen, dass Flüchtlinge dort aufgenommen werden.
Bei meinem dreiwöchigen Aufenthalt auf Lesbos habe ich in Gesprächen mit Leuten aus der Flüchtlingshilfe beziehungsweise durch meinen Kontakt zu Volunteers und Mitarbeitern von diversen NGOs immer sehr engagierte Menschen wahrgenommen, kann diese kritische Einstellung zu NGOs also nicht teilen. Auf Lesbos zeigt sich der wahre Zustand von Europa. An einer Betonmauer am Rande des "Friedhofs der Rettungswesten" hat jemand die ganze Flüchtlingsproblematik der EU knapp zusammengefasst in dem hingesprühten Satz "SHAME ON You EURoPE."