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Europas Weg in die Vergesslichkeit

Von Helmut Spudich

Gastkommentare
Helmut Spudich war vor seiner jetzigen Tätigkeit als Unternehmenssprecher von T-Mobile Wirtschafts- und Technologieredakteur bei "Der Standard".

Der EuGH hat mit seinem Google-Urteil den Weg in die Privatzensur geöffnet.


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Vor zwei Wochen rauschte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) durch die Medien, das kurz Aufmerksamkeit erregte: Google wurde vom EuGH dazu verurteilt, den Link zur Zeitungsnotiz über einen spanischen Anwalt zu entfernen, dessen Haus 1998 zwangsversteigert wurde. Die Paradoxie der Entscheidung: Der ursprüngliche Bericht darf online bleiben, der Weg dorthin wird versperrt.

Künftig haben wir also das von Europas höchster Instanz bestätigte "Recht, vergessen zu werden". Was "inadäquat, irrelevant oder nicht mehr relevant ist", muss entfernt werden. Der Umstand, dass der Kläger Mario Costeja González im Jahr 1998 zwangsenteignet wurde, wird also künftig nicht mehr bei einer Google-Suche aufscheinen - außer über den Umweg des jetzt gefällten Urteils.

Wie lange wird es aus Sicht des hohen Gerichts relevant sein zu erfahren, dass seine Klage ein wesentlicher Schritt in der gerichtlich verordneten Amnesie Europas war? Der einzige Weg, seine Privatsphäre zu schützen, wäre künftig, alle Links zu diesem Urteil zu deaktivieren, auch die Online-Version dieses Gastkommentars in der "Wiener Zeitung".

Denn was im Deutschen gern als "Recht auf Vergessen" bezeichnet wird, aber richtigerweise "Recht auf Vergessenwerden" heißen muss, hat eine schwergewichtige Kehrseite: die Zwangsverpflichtung der Suchenden, Äußerungen und Handlungen vergessen zu müssen, die jemand vergessen haben will.

Prompt haben sich in Großbritannien die Ersten gemeldet, die dieses Recht beanspruchen: ein Arzt, der negative Bewertungen entfernt haben will; ein Ex-Politiker, der Berichte über früheres Verhalten im Amt getilgt haben will; ein Mann, der wegen Besitzes von Fotos mit Kindesmissbrauch verurteilt wurde. Wie lange ist es noch relevant, Berichte über steuerschonende Geldtransporte im Plastiksackerl eines vor langem aus der Politik ausgeschiedenen Finanzministers googeln zu können?

In Deutschland, wo sich nach 1945 und 1989 ganz viele Menschen ein Recht auf Vergessen(werden) gewünscht haben, soll einer Umfrage zufolge die Hälfte der Bevölkerung darüber nachdenken, unvorteilhafte Einträge aus Google tilgen zu lassen. Eine entsprechende Befragung in Österreich würde wohl nicht viel anders ausgehen, flächendeckende Amnesie wird hier nur ungern durchbrochen. Immerhin haben wir der Welt die wunderschöne Hoffnung beschert: "Glücklich ist, wer vergisst."

All dies hätte ein Thema zur EU-Wahl abgegeben, über das es sich zu streiten gelohnt hätte - allein, es wurde vergessen. Europa ist auf dem besten Weg, dank massenhafter, höchstgerichtlich genehmigter Reputationspflege eine Defacto-Zensur zu errichten, die jene von autoritären Staaten übertrifft.

Bei der zu erwartenden Welle von Löschanträgen wird Google eher den billigeren Weg der Entfernung als den der rechtlichen Anfechtung gehen. Google nach bei George Orwell, solange es noch geht: "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit."

Dem Zeitgeist entsprechend wird diese Kontrolle jetzt ganz privaten Personen überlassen.