"Noch vor Weihnachten könnte es kritisch werden"|"Die Alternative zu einer Lösung ist ein katastrophaler Zusammenbruch."
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Brüssel. Die Schulden- und Eurokrise ist offenbar noch schlimmer als bisher angenommen. Top-Ökonomen gehen bereits von einem Zerbrechen der Eurozone aus, schon zu Weihnachten könnte kein Stein mehr auf dem anderen stehen. Es besteht kaum noch Zweifel, dass die Europäische Zentralbank (EZB) so rasch wie möglich zur Stabilisierung der Gemeinschaftswährung schreiten muss - also noch viel massiver als bisher Staatsanleihen von schwächeren Euroländern aufkauft. Langfristig würden Eurobonds benötigt.
"Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem beides passieren muss", sagt Fabian Zuleeg, Chefökonom des Brüsseler Think-Tanks "European Policy Centre" (EPC). Als Zwischenlösung eigneten sich die Eurobonds wegen der langen Vorlaufzeit der politischen Einigung und womöglich notwendiger EU-Vertragsänderung nicht. "Sie sind zwar der richtige Weg, lassen sich aber kurzfristig nicht einführen." Daher gebe es nur eine Möglichkeit: "Die EZB muss praktisch und öffentlich klarmachen, dass die Erhaltung des Systems im Moment das Wichtigste ist."
Auch der österreichische Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner bestätigte nach einem Treffen mit seinen EU-Kollegen, dass es unter dem wachsenden Druck der Finanzmärkte eine permanente Diskussion unter Experten und Politikern über die Rolle der Zentralbank gebe: "Die Frage ist, wann die EZB die silberne Kugel abschießt und über einen gewissen Prozentsatz hinaus die Abdeckung macht." Die Rede sei von einer Renditegrenze von fünf Prozent, über der Staatsanleihen von Euroländern aufgekauft würden. Das Thema könnte auch den EU-Gipfel am 9. Dezember beschäftigen. Österreich habe dem Vorschlag gegenüber eine "ablehnende Haltung", betonte Mitterlehner.
Merkel bleibt bei "Nein"zu Eurobonds
Damit ist die Regierung in Wien in guter Gesellschaft. Erst am Donnerstag bekräftigte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dem neuen italienischen Regierungschef Mario Monti ihre Ablehnung von Eurobonds und verstärktem EZB-Engagement. "Die EZB ist unabhängig. Sie ist für die Stabilität des Geldes zuständig", erklärte sie. Interventionsbefürworter Sarkozy meinte, er "versuche die deutschen roten Linien zu verstehen."
Weniger Verständnis hat Ökonom Zuleeg: Für die Preisstabilität sei in erster Linie essenziell, dass es ein stabiles Eurosystem gibt. "Wenn das zusammenbricht, wird die Bekämpfung der Inflation natürlich völlig unmöglich." Die Systemstabilität müsse daher an erster Stelle stehen.
Allerdings hänge alles an Deutschland. Und dass Berlin rasch einlenken könnte, glaubt der EPC-Ökonom nicht. Denn rational betrachtet laufe die deutsche Position darauf hinaus, eine weiter reichende Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Integration zu verlangen - dass etwa Länder wie Griechenland oder Italien ihre Souveränität verlieren, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. "Die Hauptursache des deutschen Zögerns ist aber, dass die deutschen Politiker wissen, dass diese Lösungen (EZB, Eurobonds) von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden", erklärt Zuleeg. "Und statt dass offensiv diskutiert und erklärt wird, warum das jetzt die beste Lösung ist, zieht man sich lieber auf politische Positionen zurück - um dann vielleicht einmal sagen zu können, jetzt haben wir keine Alternative mehr."
Kern-Eurozone nur aus starken Ländern?
"Das ist ein sehr riskantes Spiel", warnt der erfahrene Wirtschaftswissenschafter. Immer noch werde von vielen unterschätzt, wie schnell das schiefgehen kann - "es gibt jedenfalls die Gefahr, dass es noch vor Weihnachten kritisch wird." Und: "Die Alternative zu einer Lösung ist ein katastrophaler Zusammenbruch der Eurozone." Anarchie, ein Run auf die Banken, unvorhersehbare Kostenlawinen sowie undemokratische, extremistische Regierungen in Europa könnten die Folge sein. Laut einer weltweiten Reuters-Umfrage gehen bereits 14 von 20 Top-Ökonomen davon aus, dass die Eurozone die Krise in ihrer derzeitigen Form nicht überleben wird. Zehn von ihnen halten eine Kern-Euro-Zone nur aus ökonomisch starken Ländern für eine denkbare Alternative.
So rosig findet Zuleeg diesen Ausblick nicht: In Frage kämen dafür wahrscheinlich bloß noch Deutschland, Finnland, die Niederlande, Österreich und Luxemburg. Nach Schätzungen würde der Wechselkurs des "starken Euro" 30 bis 40 Prozent über dem heutigen liegen - "Was das für die Exportwirtschaft bedeutet, kann man sich leicht ausmalen." Zudem drohe das Ende des europäischen Integrationsprozesses: "Wenn zum Beispiel Griechenland zusammenbricht und in der Anarchie versinkt, dann vielleicht eine extremistische, populistische Regierung hat - wie will man dann auf europäischer Ebene mit 27 Mitgliedern noch konstruktive Politik machen?"