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Vorsorgemedizin ist das Um und Auf gegen Erkrankungen jeglicher Art. Die rechtzeitige Früherkennung bewahrt uns vor dem Leiden und all seinen Schrecken, vor allem aber vor einem vorzeitigen Finale unseres Daseins. Wir hören dies fast Tag für Tag seit Jahren, folgen gelegentlich diesem Ruf - vor allem wenn wir weiblich sind -, denken aber noch ungleich öfter an lange Wartezeiten und lästige Prozeduren - was primär die Männer betrifft - und lassen es schließlich wieder einmal sein. Eine weitere Anreicherung unseres sowieso schon durch "falschen Lebensstil" und die Kenntnis unserer persönlichen "Risikofaktoren" erheblich belasteten Gewissens sowie die unerfreuliche Aussicht auf den Tag, an dem wir dies noch einmal bitter bereuen werden, sind die Folgen. Alles zusammen impliziert, dass wir unsere Krankheiten nicht nur weitgehend selbst verschulden, sondern auch noch weit entfernt von unserer Mündigkeit als Patienten sind, da wir den rettenden Ausweg ignorieren. - Höchste Zeit also, sich einmal zumindest im Kopf mit dem Thema auseinander zu setzen und ein paar Nützlichkeitsprüfungen vorzunehmen.
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Beispiel Prostatakarzinom: Als der Wiener Univ.-Prof. Dr. Christian Vutuc, Leiter der Abteilung für Epidemiologie am Institut für Krebsforschung der Universität Wien, jüngst seine Studie präsentierte, derzufolge seit Einführung des PSA-Tests zur Früherkennung die Fälle von Prostatakrebs nachgerade "explodiert" sind (siehe die "Wiener Zeitung" vom 26. 11. 2001), kam dies für niemanden in der Fachwelt überraschend.
Tatsächlich gilt schon lange als ausgemacht, dass sich der Bluttest auf das Prostata-spezifische Antigen (PSA) zum Massenscreening einfach nicht eignet, weil die angezeigten Werte meist nichts von wirklicher Relevanz erkennen lassen. Entdeckt werden durch ihn tatsächlich wesentlich mehr Prostatakarzinome denn je, aber dadurch könnte leicht übersehen werden, dass auch diese nur eine Folge des Alterns sind, in zahlreichen Fällen unauffällig bleiben, keine Beschwerden verursachen und häufig erst bei der Obduktion nach dem Tod aus einer völlig anderen Ursache entdeckt werden.
Und alle, auch aus den USA und Deutschland vorliegenden Untersuchungen belegen, dass Männer, die regelmäßig zum PSA-Test gehen, genauso früh und genauso häufig sterben wie jene, die dies nicht tun, während die Autopsien von Männern über 50, die eines anderen Todes gestorben sind, zeigen, dass einer von dreien Prostatakrebs hatte.
Eine Million Tests
Dem trägt übrigens auch die Therapie bereits Rechnung: Orthodox, also etwa durch Radikaloperation, wird in der Regel nur noch wirklich Bösartiges, das schmerzhaftes Leiden hervorruft und zur Metastasierung neigt, behandelt. Doch darüber befindet vor allem die histologische Abklärung nach der Prostatabiopsie, der PSA-Test vermag lediglich einen eventuellen Rückfall anzuzeigen und dafür wurde er schließlich auch entwickelt.
Erhebt sich also durchaus die Frage, warum er dann in Österreich allein im Jahr 1999 bereits eine Million Mal eingesetzt wurde, zumal im Hinblick auf die ziemlich genau mit rund 800.000 Männern zu definierende Zielgruppe, von denen tatsächlich an die 30.000 einen diagnostizierten Prostatakrebs haben, sich also mehrmals im Jahr dem Test unterziehen müssen. Bleiben also, sehr grob geschätzt, 700.000 potentiell zu testende Männer, von denen sich allerdings laut Ärzten und Gesundheitspolitikern viel zu viele nicht vorsorglich untersuchen lassen. - Ein unergründliches Rätsel bei, wie erwähnt, mindestens einer Million PSA-Tests. Vielleicht kann das bitte einmal jemand ebenso aufklären wie das gesamte Phänomen, das Vutuc mit seinen Zahlen erhärtet hat?
Zahlengläubigkeit
Nun müsste man schon ausgesucht gemeingefährlich sein, wollte man die Bedeutung von Erkrankungshäufigkeiten und Vorsorgemedizin auch nur in Frage stellen. Aber eine Diskussion zur Relevanz von Daten bzw. der Richtigkeit ihrer Interpretation sowie über die Nützlichkeit bestimmter Verfahren ist in diesem Zusammenhang überfällig. Wer mündig sein will, muss hier nämlich skeptisch sein. Misstrauen sollte sogar immer dann zur Regel werden, wenn von "explodierenden Fallzahlen", einem "enormem Anstieg von Erkrankungen" u. ä. die Rede ist. Woran messen sich derartige Aussagen und wodurch finden sie ihre Bestätigung?
"Volkskrankheit Diabetes"
Nehmen wir etwa die "Volkskrankheit Diabetes" mit ihren unangreifbaren Zahlen. Aber halten wir dagegen, worauf ein ostdeutscher Allgemeinmediziner schon vor längerer Zeit in der deutsch-sprachigen "Medical Tribune" hingewiesen hat: Bis nach dem Zweiten Weltkrieg (und in Ostdeutschland noch lange danach nicht) gab es keinerlei Vergleichszahlen, die eine Beweisführung für den Anstieg der Erkrankungszahlen zugelassen hätten.
Diabetes wurde die längste Zeit mutmaßlich nur deshalb so selten diagnostiziert, weil niemand besonders auf die Krankheit achtete, es damals sowieso keine Behandlungsmöglichkeit gab und zahlreiche Diabetiker starben, ehe jemand den Grund dafür erkannte.
Ob Diabetes also relativ, absolut oder proportional angestiegen ist, lässt sich hier nur auf einem Umweg beantworten: Insbesondere die industrialisierte Menschheit leidet tatsächlich vermehrt unter Diabetes, weil sie - wahrscheinlich in erster Linie dank der vorsorglichen Impfungen gegen vormals verheerende Krankheiten und Seuchen - heute eine bedeutend höhere Lebenserwartung hat und dies eben einer der vielen Preise dafür ist.
Doch das Diabetes-Beispiel ist nur eines von vielen für den unkritischen Umgang mit Zahlen, Daten und Statistiken im Bereich der Medizin. Wesentlich delikater wird dieses Thema, wenn es um die Brustkrebs-Früherkennung geht.
Schadet Mammographie?
Die meisten GynäkologInnen raten Frauen um die 40 zur Brustkrebs-Früherkennung mit Hilfe der Mammographie. Offensichtlich wollen sich viele von ihnen nicht allein auf die bewährte Tastmethode, die auch den Patientinnen zur Selbstüberprüfung empfohlen wird, verlassen und suchen eine gewisse Absicherung gegen mögliche spätere Vorwürfe. Die Mammographie gilt als sicher und unschädlich, also kann man getrost die Verantwortung an sie delegieren.
Mehrere Studien weisen freilich darauf hin, dass Frauen erst ab 50 einen Nutzen durch die Mammographie haben. Doch entsprechend der Devise "je früher, desto besser" glauben auch viele jüngere Frauen, dass sich ihr Risiko, an Brustkrebs zu sterben, dadurch nachweislich verringert.
Ein Irrglaube, wie Gerd Gigerenzer, Direktor des Max- Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, jüngst nachgewiesen hat: "Was die meisten Frauen gehört haben, ist, dass Mammographie-Screening das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 25 Prozent verringert. Jedoch hat man ihnen nicht erklärt, was diese Zahl tatsächlich bedeutet."
Und Gigerenzer weiter: "Aber wieviel sind 25 Prozent? Von 1.000 Frauen (aller Altersgruppen ab 35 Jahren), die nicht am Mammographie-Screening teilnehmen, sterben innerhalb von 10 Jahren 4 Frauen an Brustkrebs. Von 1.000 Teilnehmerinnen an einem Mammographie-Screening sterben im selben Zeitraum 3 Frauen. Der Unterschied von 4 nach 3 ist 25 Prozent. Das heißt im Klartext: Gerettet wird eine von 1.000 Frauen, und das sind 0,1 Prozent. 25 Prozent sind also dasselbe wie 0,1 Prozent, aber viel beeindruckender." Und, besonders wichtig: "Die erste Aussage nennt man relative, die zweite absolute Risiko-Reduktion. Es ist seit langem bekannt, dass der Nutzen einer Behandlung weit überschätzt wird, wenn er als relative Risiko-Reduktion dargestellt ist. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb werden in praktisch allen Informationsbroschüren nicht absolute, sondern relative Werte angeführt."
So weit, so gut: Mammographie gibt Patientinnen und ÄrztInnen Sicherheit, also könnte man sagen, sie schadet nicht. Aber auch dies entspricht nicht den Tatsachen. Gigerenzer: "Tatsächlich nehmen Frauen jedoch drei mögliche Nachteile in Kauf. Erstens sind die Ergebnisse der Mammographie mit deutlich mehr Fehlern behaftet... Wenn Frauen ihre erste Mammographie machen lassen, dann übersieht diese einen vorhandenen Brustkrebs in 10 bis 20 Prozent aller Fälle (das Ergebnis ist falsch-negativ) und zeigt bei 5 bis 10 Prozent der Frauen, die keinen Brustkrebs haben, ein positives Ergebnis (es ist falsch-positiv)."
Angst und Panik
Fazit: "Eine postive Mammographie kann eine Frau in panische Angst versetzen, insbesondere, wenn ihr der Arzt nicht mitgeteilt hat, dass von 10 Frauen mit positiven Screening-Mammogrammen die meisten - etwa neun von zehn Frauen - keinen Krebs haben." Doch erst durch Biopsien etwa werden diese falsch-positiven Ergebnisse erkannt, was in Deutschland pro Jahr zu mehr als 100.000 Brustoperationen (Biopsien) an in der Regel gesunden Frauen führt. Und andersrum ist es auch hier wie beim Prostatakarzinom: Die wenigsten Frauen ahnen auch nur, dass es harmlose Formen gibt und sie im schlimmsten Fall mit allen Konsequenzen "überbehandelt" werden und ihre Lebensqualität einbüßen.
Quelle: Rowohlt-Kursbuch 145, "Der laufende Schwachsinn", September 2001.