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Das Leben Besteht aus abschieden, auch wenn man das vielleicht nicht wahrhaben will. Manche von ihnen sind schmerzhaft, andere befreiend.
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Jedes Ding hat bekanntlich zwei Seiten. Im Idealfall auch unterschiedliche. So ist es auch mit dem Thema Abschied. Für die einen dreht es sich dabei um Schmerz, um Trauer, Tod und Abstand zu einem geliebten Menschen. Für andere wiederum bedeutet Abschied nehmen, dass eine Türe zugeht und sich zwei neue öffnen. Über die Trauer und den Tod mögen andere an anderer Stelle schreiben, hier geht es zum Jahresende um den notwendigen Abschied. Um die Vorteile oder sogar die Notwendigkeiten des Verabschiedens, des Gehen- und Ziehenlassens und die Herausforderungen, die sich daraus ergeben.
Das Leben besteht aus Sterben. Ewiges Leben kann tödlich sein. Klingt seltsam. Ist es aber nicht. Denn, auch wenn ich als Person Jahrzehnte vielleicht sogar ein gutes Jahrhundert auf dieser Erde weile, so bin ich eigentlich gar nicht mehr ich. Spätestens nach einem Jahr bin ich runderneuert - denn so lange ist die maximale Lebensdauer von Körperzellen. Diese hängt von ihrer Aktivität ab. 90 Prozent der menschlichen Körperzellen werden jährlich mindestens einmal gewechselt. Die roten Blutkörperchen leben zwischen 120 und 130 Tage, Leberzellen gut 10 bis 15 Tage, die weißen Blutkörperchen maximal drei Tage. Und sollten Sie diesen Artikel nicht auf einmal fertig lesen, so kann es sein, dass die Schleimhautzellen des Dünndarms das Ende gar nicht mehr mitbekommen, sind sie doch nach 30 bis 35 Stunden ausgewechselt. Unglaublich, aber wahr: 74 Prozent der Zellen werden täglich neu gebildet. Ich habe mich noch nie von einer meiner Zellen bewusst verabschiedet, es wäre auch zu aufwendig bei der großen Masse. Ich habe auch keiner einzigen einen Namen gegeben. Sie kommen, sie gehen, ich bleibe. Relativ einfach. Wenn aber eine Zelle nicht gehen will, dann, ja dann bekommt sie einen Namen. Vielleicht PCa oder auch Prostatakarzinom. Wenn eine Zelle einen Namen bekommt, dann ist es definitiv nicht mehr lustig. Eine Zelle, die ewig leben will, wird eine Krebszelle. Sie teilt sich immer weiter und außerdem funktioniert auch ihr Selbstmordprogramm nicht mehr. Dieses sorgt normalerweise dafür, dass Zellen zugrundegehen, die schwere Schäden im Erbgut haben, oder die sich aus ihrem Heimat-Gewebeverband gelöst haben und im Körper herumvagabundieren. Das Ergebnis sind unsterbliche Zellen, die sich weiter vervielfältigen und im Körper Tumore und Metastasen bilden. Also in diesem Fall scheint ein Abschied ja durchaus seine Vorteile zu haben.
Nicht nur auf zellularer Ebene scheint Abschied wesentlich für den Weiterbestand zu sein. Alle paar Jahre verabschiede ich mich ohne große Wehmut von meinem alten Mobiltelefon. Einmal wird es verloren, dann wieder weitergeschenkt, manchmal gespendet und selten, aber doch, auch einfach weggeworfen. Mein Handy wird dem natürlichen Recycling-Kreislauf aller Elektrogeräte zugeführt. Ist eine Ware zu billig, als dass eine Reparatur Sinn machen würde, oder aber aus Rohstoffen, deren Vorkommen beschränkt oder deren Abbau zu aufwendig ist, so macht man aus Alt einfach Neu. Oder versucht Selbiges zumindest so gut es geht. Die Trennung vom ersten Mobiltelefon war noch von einer nostalgischen Wehmut begleitet, doch danach - danach, war es immer ein Fortschritt. Das erste Handy konnte nichts, außer Telefonieren und SMS. Nun kann mein Smartphone mehr als ein Durchschnittsmensch, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Natürlich wusste ich beim Abschiednehmen zunächst nicht, dass die Zukunft rosiger und technologischer spannender, die Möglichkeiten vielfältiger und die Bildschirme größer und farbenfroher sein würden. Wäre Abschied der Schritt zu einem besseren Handy oder schöneren Fernseher, einem benzinsparenden Auto oder einer grüneren, ruhigeren Zukunft, dann hätten vermutlich auch weniger Menschen wirklich ein Problem damit. Wenn aus meinem Mobiltelefon ein neues Mobiltelefon wird und aus meiner Zelle eine neue Zelle, dann ist eigentlich alles irgendwie unsterblich. Nur eben in einer anderen Zusammensetzung. Ein bisschen Kleopatra steckt vermutlich in jedem Menschen - ein gutes Gefühl. Aber auch ein bisschen Nero, weniger gut, aber wohl kaum zu ändern. Bekanntlich verschwindet auf der Erde ja auch nichts. Alles bleibt im Fluss. Streng gläubige, dogmatische Menschen mögen einen Leserbrief an mich richten, dann können wir dies vielleicht noch ausdiskutieren. Alle anderen Leserinnen und Leser mögen sich mit Wohlgefühl und guter Laune auf den Abschied vorbereiten.
Um beim Recycling-Kreislauf zu bleiben: Interessant ist auch, dass mein Mobiltelefon in Afrika entstanden ist, irgendwo in einem Bergwerk wurden seltene Erde ausgegraben - vermutlich unter wenig menschenwürdigen Bedingungen -, die dann in Asien unter nicht minder menschenunwürdigen Verhältnissen zu meinem Handy wurden. Über den Zwischenstopp Europa und nach einem Abschied wird das Elektrogerät in Afrika wieder auseinander gebaut und dann beginnt der Kreislauf von Neuem. Ohne Abschiednehmen kein Konsumrausch. Das geplante Ende der Geräte, immer kurz nach der Garantie, diese "geplante Obsoleszenz" kurbelt den Waren- und Wirtschaftskreislauf an. Das Herzblut darf nicht mehr an der Waschmaschine hängen, diese Zeiten sind vorbei. Am besten verabschiedet man sich von den Gebrauchsgegenständen bevor sie wirklich den Geist aufgeben, denn interessanterweise kann man dies nie richtig vorhersehen. Kurz gesagt: "Beim Abschied vom Markte lernt man die Kaufleute kennen."
Wenn Sie diesen Text gelesen, aus dem "Wiener Journal" - trotz der schlechten Saugfähigkeit und der vielen Druckerschwärze - eine Unterlage für den Meerschweinchenkäfig gemacht und diesen dann ausgemistet haben, dann beginnt auch hier der Neuanfang. Wer weiß, welchen Text das wiederverwertete Papier einmal tragen wird. Vielleicht wird daraus eine historisch relevante Urkunde. Oder ein Lottoschein. Meine Großmutter arbeitete jahrelang in einer Druckerei. Eines Tages fragte sie mich, was denn dieser ominöse Lotto Quicktipp sei. Ich versuchte, die Frage zu verstehen, zu erklären und erntete Blicke, die zwischen Unglaubwürdigkeit und Zweifel an meiner geistigen Gesundheit lagen. Ein Computer wählt Zahlen aus. Soweit, so gut. Aber wer druckt denn den Lottoschein? Na der Drucker in der Trafik. Ja, aber das geht doch nicht, das kann doch nur in einer Druckerei passieren. Wie werden die Scheine richtig nummeriert? Wie kann ein Gewinnanspruch erhoben werden, wenn es keinen Durchschlag gibt? Es kann doch so ein Blechtrottel keinen Menschen ersetzen. Diesen Irrglauben hatte übrigens auch mein Vater, ein gelernter Drucker und Setzer. Der gewerkschaftliche Hochadel der "postcomputer Zeit" sah sich stets als unersetzlich. Einen guten Drucker kann kein Computer ersetzen, einen Setzer doch ohnehin nicht. Ein paar Monate später war mein Vater als Fotograf und Layouter unterwegs, weit weg von Druckereien. Einen Computer hat er aber erst Jahre später in seinem Haus akzeptiert. Möglicherweise wurde aus den Papierstapeln meiner Großmutter das Magazin meines Vater - wäre doch ein schöner Gedanke. Alles wandelt sich, vergeht und bleibt in der Familie. Aber wahrscheinlich wäre es eine Gebrauchsanleitung für ein neumodisches Elektronikprodukt aus China geworden, das keiner braucht.
Apropos China
Wie fruchtbar Abschied sein kann, zeigt sich in Schönbrunn. Die chinesischen Pandas werden weltweit verliehen, nehmen also Abschied von der alten Heimat und zeugen in Tiergärten Nachwuchs. So wurde im November der zweijährige Panda Fu Hu aus Wien verabschiedet, um in seine Heimat zu fliegen, wo er nun mit seinem Bruder, dem ebenfalls in Wien geborenen Fu Long, in der Pandazucht- und Forschungsstation in Bifengxia lebt. Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer, meinte Konfuzius. Ach, was war das für ein Abschied. Die eigentliche Sensation war jedoch die natürliche Zeugung eines Pandas in einem Zoo - wir erinnern uns. Wie lange war der Panda Gesprächsthema, wie viele Besucher kamen nach Schönbrunn! Was für ein Ereignis! Ist ein Ereignis nicht auch immer einzigartig? Liegt darin nicht auch das Wesentliche. Was wäre ein Urlaub ohne die Abreise? Auf Wiedersehen sagen, bedeutet doch auch immer eine Erinnerung zurückzulassen beziehungsweise mitzunehmen. Der Abschied als Geburt der Erinnerung. So bleibt man rege im Geiste und jung im Herzen, besser kann dies wohl Joseph von Eichendorff sagen: "Bald werd’ ich dich verlassen/Fremd in der Fremde geh’n,/Auf buntbewegten Gassen/Des Lebens Schauspiel seh’n;/Und mitten in dem Leben/Wird deines Ernst’s Gewalt/Mich Einsamen erheben,/So wird mein Herz nicht alt."
Ist Altwerden eigentlich wirklich Abschied von der Jugend? Ist es nicht vielmehr das Willkommenheißen von Wissen, das Sammeln von Erfahrung? Sobald sich die jugendliche Leichtigkeit verabschiedet, der Übermut gelegt hat und die Hormone sich eingependelt haben, geht das Leben dann nicht erst los? War ich früher bis zum bitteren Ende geblieben, so verlasse ich nun das Fest, wenn es mir am besten gefällt.
Apropos Fest
Feste feiern sollte man mit Musik. Und gerade in diesem Bereich hat der Abschied von Traditionellem den Weg für Neues geebnet. Ohne Klassik kein Jazz, ohne Pop kein Techno und ohne Czernys "Kunst der Fingerfertigkeit" keine Schönberg’sche "Zwölftontechnik". Ganz abgesehen davon, dass sich ein Gutteil aller Lieder und lyrischer Werke mit dem Thema "Abschied" beschäftigt. Nicht nur in der Kunst, auch in der Wissenschaft wäre eine Weiterentwicklung, eine radikale Umwälzung ohne den Abschied des Bekannten undenkbar. Irgendwann muss eine Grenze erreicht und selbige dann auch durchbrochen werden, um Neues zu erreichen. Abschied vom längst Gedachten, den Mut das Unbekannte zu erfahren und sich dem Unerwarteten zu stellen. "Zwei Wege boten sich mir dar,/ Ich nahm den Weg, der weniger begangen war,/und das veränderte mein Leben", schrieb Robert Frost.
Abschied muss kein Ende sein. Manchmal ist es ein Neubeginn, eine neue Möglichkeit oder eine neue Erfahrung. Die Verabschiedung der negativen Bedeutung des Abschieds würde diesen, selbst in tiefer Trauer, schöner erscheinen lassen. Nehmen Sie Abschied von diesem Text, erinnern Sie sich daran und wir werden uns wiedersehen, wiederhören oder wiederlesen.
Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,/ Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:/ So sei mir wenigstens für das verbunden,/ Was ich zurück behielt. (Gotthold Ephraim Lessing - Abschied vom Leser)Artikel erschienen am 28. Dezember 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-9