Es konnte bei einer öffentlichen Veranstaltung sein, einer Geburtstagsfeier unter Freunden, einem Gespräch im Kaffeehaus - ob nicht ein Spitzel zuhörte, wusste niemand. Der Freund, der Nachbar, die Arbeitskollegin konnten doch mit dem kommunistischen Geheimdienst zusammen arbeiten.
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Wenn viele Polen an ihr Leben in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren denken, können sie das damals herrschende Klima noch immer kaum fassen. Das Ausmaß der Unterdrückung und der Unfreiheit ist nämlich erst später zutage getreten. Mehrere hunderttausende Mitarbeiter haben die polnischen Geheimdienste Ende der 80er-Jahre beschäftigt: zur Kollaboration gezwungen, mit einem Pass und einer Reisebewilligung geködert oder gut bezahlt. Einige der so gewonnenen Agenten haben tatsächlich ihre Freunde denunziert, andere haben zum Selbstschutz nur wertlose Informationen geliefert.
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Die Debatte über Spitzeltätigkeiten und die Einsicht in Geheimdienstakten hat sich erst in den letzten zwei Jahren intensiviert. Für Aufregung sorgte etwa der Publizist und jetzige Präsident des staatlichen polnischen Fernsehens, Bronislaw Wildstein, als er Anfang 2005 eine Liste mit rund 200.000 Namen ins Internet stellte. Zwischen Opfern und Tätern wurde dabei nicht unterschieden, was dem einstigen Oppositionellen Wildstein den Vorwurf der blinden Rachsucht einbrachte.
Empörung löste im Vorjahr die Behauptung einer Zeitung aus, der Schriftsteller Zbigniew Herbert - den ein Kollege später als einen der wenigen Unbeugsamen bezeichnet hat - habe eng mit dem Geheimdienst kooperiert. Die Zeitschrift entschuldigte sich bald.
Finanzministerin Zyta Gilowska musste im Juni wegen Vorwürfen der Kollaboration zurücktreten. Nach der Entlastung durch ein Gericht kehrte sie im September in ihr Amt zurück.
Doch nicht nur Politiker, einstige Regimekritiker und Intellektuelle sahen sich mit dem Verdacht der Agententätigkeit konfrontiert - oder gaben diese zu. Unter Druck geriet auch die katholische Kirche, eine mächtige Opposition zum Regime, deren Vertreter bis in die 80er-Jahre verfolgt, verhaftet und in einigen Fällen ermordet wurden.
Der Rücktritt des Warschauer Erzbischofs Stanislaw Wielgus, der 20 Jahre lang Amtsbrüder bespitzelt haben soll, ist nur das prominenteste Beispiel. Auch der Vorsitzende des polnischen Rates der Christen und Juden, Michal Czajkowski, hat für seine Agententätigkeit um Verzeihung gebeten. Seelsorger der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc gerieten ebenso unter Spitzelverdacht wie der Beichtvater des Gewerkschaftsführers Lech Walesa. Laut Angaben des alle Akten verwaltenden Instituts für Nationales Gedenken (IPN) haben zehn bis fünfzehn Prozent der Priester mit dem Geheimdienst zusammen gearbeitet. Erst nach langem Zögern hat die Bischofskonferenz beschlossen, eine Historiker-Kommission einzurichten, die Vorwürfe gegen Kleriker mit Hilfe des IPN prüfen soll.
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Lustracja, die völlige Durchleuchtung nicht nur der politischen Ebene - das haben sich auch die Zwillingsbrüder Lech und Jaroslaw Kaczynski auf die Fahnen geheftet, als sie mit ihrer rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit bei Wahlen angetreten sind. Die einstigen Oppositionellen und Mitstreiter von Lech Walesa sind mittlerweile Polens Staatspräsident und Premier. Geht es nach ihnen, ist jeder Bereich des gesellschaftlichen Lebens nach Ex-Spitzeln zu durchleuchten.
Ein neues Gesetz sieht vor, dass Personen, die "öffentliche Aufgaben erfüllen", eine Erklärung über eine mögliche Agententätigkeit abgeben müssen, wozu bis vor kurzem nur ein kleiner Personenkreis in den höchsten Staatsämtern verpflichtet war. Die Novelle betrifft nun an die 400.000 Menschen, darunter Journalisten und Universitätsdozenten.
Das Interesse an den Akten ist bereits jetzt groß. Mehr als 100.000 Polen haben im IPN Einsicht in ihre Dokumente beantragt. Doch so wichtig die Vergangenheitsaufarbeitung ist - in einem Klima der Hysterie droht sie zu einer neuen Hexenjagd zu verkommen.