Santiago - Die Hoffnung auf Sühne für die Verbrechen der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) schwindet in Chile von Tag zu Tag. Als die Entscheidung über einen Antrag auf Einstellung des Strafverfahrens gegen den Ex-Diktator General Augusto Pinochet am Dienstag zum vierten Mal verschoben wurde, platzte Klägeranwalt Eduardo Contreras der Kragen. "Diese neue Verschiebung bedeutet, dass etwas im Gange ist, und wir meinen, dass das weder für die Transparenz des Verfahrens noch für das Land gut sein kann", sagte der Anwalt von Diktatur-Opfern misstrauisch.
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Schon vor einigen Tagen hatte Ricardo Israel, angesehener Rechtsprofessor der Universität von Chile, gewarnt: "Die Leute an der Macht, wie Regierung und Streitkräfte, aber auch politische Parteien und Medien haben das Interesse an dem Fall völlig verloren." Nach Einschätzung mehrerer chilenischer Medien ist inzwischen sogar Untersuchungsrichter Juan Guzman, vor Monaten noch als unermüdlicher Held gefeiert, müde. Er wisse nämlich, dass der Prozess gegen den 85-jährigen Pinochet früher oder später aus medizinischen Gründen endgültig eingestellt werden und der Kampf verloren sein wird.
Die Verzögerungstaktik von Pinochet ging bisher vollständig auf. Das Appellationsgericht verkündete am Dienstag, die Entscheidung über den Antrag der Verteidigung stehe bereits fest, man wolle vor Bekanntgabe aber die Rückkehr einer beteiligten Richterin aus dem Urlaub abwarten. Das wurde in Justizkreisen zurückgewiesen. Die drei zuständigen Richter hätten sich seit Ende der Anhörungen am 22. Juni nicht ein einziges Mal getroffen, es gebe deshalb noch gar keinen Beschluss.
Auf Zeit spielte der Ex-Diktator nach Meinung vieler auch, als er sich am Sonntag medienwirksam in das Militärkrankenhaus von Santiago bringen ließ. "Jeder weiß, dass das eine Show war, aber sie machte Eindruck auf die Richter", meinte ein Journalist. In Santiago heiß es, Pinochet habe nicht nur in den Streitkräften, die immer wieder vor allzu harter Behandlung des Ex-Diktators warnen, sondern auch noch in der Justiz und anderen Bereichen Helfer. Etwa unter den Ärzten des Militärhospitals - wie Reinaldo Seilave, der im Juni die Aufnahme Pinochets in die Verbrecherkartei verhinderte und die nötigen Fotos sowie die Abnahme von Fingerabdrücken als "gesundheitlich höchst gefährlich" für Pinochet wertete.
Pinochet steht wegen seiner Verstrickung in 57 Morde und 18 Entführungen kurz nach dem blutigen Militärputsch gegen Salvador Allende im September 1973, der so genannten Karawane des Todes, seit März unter Anklage. Während seiner Diktatur "verschwanden" aber mindestens 3200 Regimegegner spurlos. Nicht nur die Angehörigen dieser Opfer wollen, dass Pinochet persönlich für die Verletzung der Menschenrechte zur Rechenschaft gezogen wird.
Der alte Mann weilt unterdessen entweder in seinem Feriensitz in Bucalemu, wo er oft den Garten pflegt. Und wenn er - wie derzeit - nicht wieder einmal in einer Klinik behandelt wird, besucht er Einkaufszentren und seine Enkelkinder.
Obwohl es mit der Gesundheit von Pinochet, der Diabetiker ist und einen Herzschrittmacher hat, wirklich nicht zum Besten steht, kann nach chilenischem Recht nur dann von einem Prozess abgesehen werden, wenn ein Angeklagter in seinen geistigen Fähigkeiten stark eingeschränkt ist. Pinochet wurde Anfang des Jahres viertägigen medizinischen und psychologischen Tests unterzogen. Dabei wurde festgestellt, dass er nur unter einer "leichten Demenz" auf Grund früherer Hirninfarkte leidet.
Die Seifenoper "made in Chile" ist vorerst aber noch lange nicht vorbei. Unabhängig von der Entscheidung des Appellationsgerichts halten Beobachter eine erneute Berufungsklage einer der beiden Seiten für sicher. Dann würde der Fall vor das Oberste Gericht kommen. Und dessen Richter haben sich schon oft als sehr "druckempfindlich" erwiesen.