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Ex-Regierungschefs und die Unschuldsvermutung

Von Melanie Sully

Gastkommentare
Melanie Sully ist britische Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance. Sie hat unter anderem als Konsulentin für die OSZE und den Europarat in Straßburg gearbeitet und ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs in London.
© Weingartner

Manchmal stehen "die da oben" plötzlich ganz unten.


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Ehemalige Regierungschefs haben es nicht leicht derzeit. Alles wird schneller untersucht als einst. Dokumente, Chats und Handygespräche werden weitergeleitet und geleakt, möglicherweise von den netten Kollegen nebenan, die sie an Behörden, Medien oder das Parlament weitergeben. Das Volk amüsiert sich darüber, wie schnell "die da oben" plötzlich ganz unten stehen, festgenommen und befragt werden. Natürlich steht ganz am Ende der Killersatz: "Es gilt die Unschuldsvermutung."

In Großbritannien spielt sich eine Seifenoper - oder ist es doch ein Psychodrama? - zwischen Ex-Premier Boris Johnson und dem aktuellen Regierungschef Rishi Sunak ab. So wie Johnson wurde auch Sunak von der Polizei eine Geldstrafe in der Höhe von umgerechnet 50 Euro aufgebrummt, kein Malheur für einen Multimillionär, aber für sein Image sicherlich nicht optimal. Johnson seinerseits rastet wieder einmal aus und droht als "unguided missile" (unberechenbare Rakete) die Situation der Tories noch miserabler zu machen.

Auch in Schottland geht es rund. Dort werden die führenden Köpfe der Schottischen National Partei (SNP) einer nach dem anderen festgenommen von der Polizei stundenlang einvernommen: Der Ehemann der abgetretenen Regierungschefin und Parteiobfrau, Nicola Sturgeon, der Schatzmeister der Partei und zuletzt Sturgeon selbst - alle, die jahrelang Machtpositionen ausgeübt haben, fanden sich nun vorübergehend in Polizeihaft wieder. Wo sind die mehr als 700.000 Euro hin, die die SNP für ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands auf die Seite gelegt hatte? Ein solches Spektakel kennt man sonst nur aus Krimis. Vor Sturgeons Haus schlug die Polizei ein großes weißes Zelt, ein "evidence tent", auf. Welche Beweise wurden tagelang im Haus der Ex-Regierungschefin gesucht? Und was haben die Polizeibeamten mit Schaufeln im Garten des Ehepaars gemacht? Das sieht nicht gerade nach kleinen Delikten aus. Mittlerweile sind die Sturgeons ausgezogen, um den Nachbarn diesen Trubel zu ersparen.

Die SNP-Mitglieder wollen unterdessen Antworten. Die Kampfabstimmung über Sturgeons Nachfolger war im Gange, da erfuhren wir, dass nicht mehr allzu viele Mitglieder registriert sind. Auch diese Zahl wurde vom Parteiapparat verheimlicht. Sturgeons Nachfolger Humza Yousaf scheint verwirrt zu sein wie der berühmte Hase, der von nichts weißt. Als Kandidat hat er Kontinuität versprochen, die Fortführung von Sturgeons Politik. Sie war es, die stets Transparenz betont hat und stolz war auf Verhaltenskodizes für Politiker.

Dem Unabhängigkeitsbestreben Schottlands hat sie keinen guten Dienst erwiesen, auch wenn die Bewegung noch nicht im Sterben liegt. Die Labour-Partei könnte in Schottland punkten, aber sie ist eine "Londonder Partei" - sie vertritt die Interessen des Parlaments in Westminster. Johnson wiederum hat die Brexit-Politik geschadet. Im Spiel sind emotionale Themen, wie eben der Austritt aus einer unbeliebten Union, die nicht verschwinden werden. Der Frust ist groß unter den Wählern über jene Politiker, die noch im Amt sind. Und wer weiß, was diese in Zukunft noch anstellen werden? Aber es gilt die Unschuldsvermutung.