Keynes-Biograf Robert Skidelsky über die Reform der Eurozone und die nächsten Schritte im Brexit.
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"Wiener Zeitung": Herr Skidelsky, was halten Sie von den Reform-Vorschlägen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für die Eurozone?
Robert Skidelsky: Reformideen gibt es viele. Man könnte sich zum Beispiel darauf einigen, dass ein Transfersystem ins EU-Budget eingebaut wird. So etwas hätte einen antizyklischen Effekt und man könnte Geld an Staaten transferieren, die asymmetrischen Schocks ausgesetzt sind. Aber derzeit erlauben die europäischen Verträge ein derartiges Vorgehen nicht. Ein zweiter Gedanke: Ein europäischer Währungsfonds. Der Vorschlag existiert ja bereits eine ganze Weile. Es gibt aber eine Menge offener Fragen: Wie groß soll dieser Währungsfonds dimensioniert werden? Zu welchen Konditionen gibt es dort Geld? Wird Deutschland auf ein Vetorecht bestehen, denn schließlich wird es Großteils deutsches Geld sein, dass von diesem Fonds vergeben werden wird? All diese Fragen sind ungelöst.
Sie sind Biograf des Ökonomen John Maynard Keynes. Was hätte einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen?
Für Keynes waren Krisen in einer Marktwirtschaft nichts Ungewöhnliches. Wenn man Volkswirtschaften nicht vernünftig managed, dann erreichen Sie nie ihr volles Potenzial. Leider gibt es Politiker und Ökonomen, die glauben, eine Marktwirtschaft wird sich schon an der natürlichen Arbeitslosenrate stabilisieren - sie glauben, dass der Markt immer zur Balance finden wird. Keynes würde einen möglichst breiten Werkzeugkoffer vorschlagen, um große Fluktuationen möglichst zu verhindern - und wenn das nicht geht - zu dämpfen. Und in jedem Fall würde er Maßnahmen vorschlagen, um möglichst rasch aus einer Situation der Malaise herauszukommen. Am ehesten würde er zu Fiskal-Instrumenten raten, monetäre Instrumente sind für so etwas nicht gut geeignet. Mit monetären Tools kann man zwar mittels Zinserhöhung eine Volkswirtschaft in eine Depression zu stürzen und zum Beispiel die Inflation drücken - aber das ist mit enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten für diese Volkswirtschaft verbunden. Was man in der Eurozone gemacht hat, um die Ungleichgewichte wieder ins Gleichgewicht zu bringen, war sogenannte interne Abwertung. Das hat im Fall von Griechenland etwa bedeutet, dass Löhne und Pensionen gesunken sind - und das bei steigenden Preisen.
Wie kann man die Leistungsbilanzunterschiede in der Eurozone in den Griff bekommen?
Die Überschussländer müssen über einen bestimmten Zeitraummehr ausgeben, sie müssen Budgetdefizite in Kauf nehmen. Eine zweite Maßnahme wäre, die Löhne in den Überschussländern zu erhöhen - nach der Theorie würde das die Nachfrage ankurbeln und so die Konjunktur stützen. Ideal wäre beispielsweise ein Urlaub einer deutschen Familie in Griechenland. Was die Defizitländer betrifft: Sie haben alles getan, was man von ihnen verlangt hat. Nicht nur Griechenland hat einen fürchterlichen Preis für die Austeritätspolitik - Stichwort: Jugendarbeitslosigkeit - bezahlt. Keynes hätte dazu gesagt: Wir haben die junge Generation Europas auf dem Altar der Hochfinanz geopfert. Und Keynes hat einmal gesagt, unser System wird von Menschen gesteuert, die in den lichten Höhen der Finanz-Tempel leben, von denen sie nie herunterblicken, sondern nur ihresgleichen sehen.
Gilt das auch für die Gegenwart?
Wenn ich heute Notenbanker oder Finanzministeriums-Beamte etwa auf das Thema Arbeitslosigkeit ansprechen, dann sagen die: "Was wollen Sie denn!? Die Arbeitslosigkeit ist ja wieder gesunken! Wir haben die Arbeitsmärkte flexibilisiert und haben wieder einen höheren Grad an Beschäftigung." Mein Argument darauf: "Von welcher Art von Arbeitsplätzen sprechen Sie? Aber die meisten dieser Arbeitsplätze sind Mist. Das sind Jobs, die nirgendwohin führen - sie bieten nur Mindestlohn, es gibt keine Möglichkeit, dass man sich dort Kompetenzen erwirbt, plus diese Jobs sind sehr unsicher. Das Einzige, was diese Jobs bewirken, ist, die Beschäftigungsstatistik zu schönen." Factum est: Zumindest in Großbritannien bringt der Arbeitsmarkt für die meisten Menschen keine guten Löhne mehr hervor. Zwischen zwei und drei Millionen Menschen, die einen Job haben, sind auf Lohn-Subventionen angewiesen. Was ist das von Arbeitsmarkt, der keine Arbeitsplätze mit vernünftigen Löhnen und Gehältern hervorbringt? Wir reden hier von unglaublich reichen Gesellschaften, von unglaublich reichen Volkswirtschaften! Und trotzdem können Millionen von Menschen nicht von ihrer Arbeit vernünftig leben? Das ist doch unglaublich!
Wie sollte es ihrer Meinung nach mit der Eurozone weitergehen?
Von mir aus soll sie auseinanderbrechen. Es gibt einen Kern von Ländern, die mit einer harten Währung gut leben können. Und dann gibt es Länder, die ihre eigenen Arrangements treffen sollen.
Meinen Sie das im Ernst?
Ein solches Auseinanderfallen Eurozone wäre aber natürlich ein gewaltiges - vielleicht sogar katastrophales - Ereignis. Und dieses Ereignis wäre wohl auch ein harter Schlag für das europäische Projekt. Die Tatsache, dass Europa das vielleicht nicht überleben könnte, lässt mich übrigens zögern, ob man sich das tatsächlich wünschen sollte. Aber dem Euro wohnt ein veritables Demokratieproblem inne. Wir haben heute eine Art Goldstandard in Europa - der heißt heute Euro. Da kann niemand raus. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie die Menschen wählen, sie können überhaupt keinen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik Eurozone nehmen.
Der Euro steht von Linksextremen wie von Rechtsextremen gleichermaßen unter Beschuss.
Die Linken haben meiner Meinung nach die besseren Argumente. Die Euro-Krise war aber sicherlich der Geburtshelfer der deutschen AfD und hat in Großbritannien die Brexit-Befürworter beflügelt, die Europa zu einem hoffnungslosen Fall erklärt haben. Die Rechte hat heute einen klaren Fokus: Die Nation. Angesichts des Zusammenhalts der Nation spielen nach dieser Lesart die Klassenunterschiede - über die die Linken diskutieren wollen - keine Rolle mehr. Die Nation, so sagen die Rechten, gerät in einen Vortex und wird von diesem Octopus aus Brüssel, der Hochfinanz, George Soros, und allen anderen üblichen Verdächtigen stranguliert. Dem hat die Linke derzeit wenig entgegenzusetzen. Die linke braucht einen effektiven Weg, die Globalisierung und die Ausbeutung der Arbeiter zu kritisieren, der nicht nationalistisch ist. Der Songwriter Tom Lehrer sagte über den spanischen Bürgerkrieg: Die Franco-Leute mögen zwar die Schlachten gewonnen haben, aber wir hatten die besseren Songs. Doch weder der Krieg noch die Politik ist ein Gesangswettbewerb. Das galt damals - und das gilt auch heute.
Sie sind Lord im britischen Oberhaus. In Großbritannien gibt es nur ein politisches Thema: Der Brexit. Wie wird der vonstattengehen?
Das weiß derzeit niemand. Sicher ist, dass die Sache sehr schmerzlich für Großbritannien wird. Ich glaube nicht, dass der Exit vom Brexit möglich sein wird. Und ich glaube auch, dass manche in Großbritannien immer noch der Fantasie unterliegen, dass man die EU einfach so verlassen kann, ohne einen Preis zu zahlen. Man kann ja auch nicht im Fitnessklub seine Mitgliedschaft kündigen, und am nächsten Tag kommen und einfach weiter trainieren, als wäre nichts gewesen. Wäre das möglich, dann würde niemand mehr seine Mitgliedschaft verlängern. Und schon allein aus diesem Grund wird Michel Barnier hart verhandeln. Aber vielleicht ist es ja auch ein Fehler, daran zu glauben, dass wirtschaftliche Argumente in dieser Diskussion tatsächlich Gewicht haben. Denken Sie nur an Russland: Die wirtschaftliche Lage in Russland ist in den letzten Jahren nicht zuletzt wegen der Wirtschaftssanktionen wirklich nicht besonders gut. Aber Russlands Präsident Wladimir Putin ist im Land populärer als je zuvor. Es geht in der Politik eben sehr stark um Gefühle.
Robert Skidelsky (geb. 1939 in Harbin, China) ist ein britischer
Wirtschaftshistoriker, der für seine dreibändige Biographie über den Ökonomen John Maynard Keynes bekannt geworden ist. Skidelsky ist seit dem Jahr 1991 Mitglied des House of Lords und spricht sich für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte aus. Skidelsky war auf Einladung
der Arbeiterkammer in Wien.