Die ältesten vielzelligen Lebewesen sind in Wien weltweit erstmals zu sehen.
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Wien. Es sind schwarze, kleine Plättchen auf dunklem Grund - und dennoch sind sie mindestens so bedeutend wie Dinosaurier. Wie Dinosaurier? Was weit hergeholt erscheint, hat einen direkten Zusammenhang. Denn diese unscheinbaren Reste sind die ältesten Zeugnisse mehrzelliger, komplexer Lebewesen. Den bisher vermuteten Beginn der Vielzelligkeit schrauben sie um 1,5 Milliarden Jahre nach vorne. Sie sind 2,1 Milliarden Jahre alt, ihre fossilisierten Weichteile wurden an Gabuns Küste in Zentralafrika entdeckt. Im Naturhistorischen Museum (NHM) in Wien sind sie nun weltweit erstmals zu sehen.
Von heute, Mittwoch, bis 30. Juni ist ihnen die Sonderschau "Experiment Leben - Die Gabonionta" gewidmet. Ihre Präsentation erinnert an jene von Juwelen: In einem abgedunkelten Saal werden die wenige Zentimeter großen Fossilien von hell erleuchteten Vitrinen umrahmt. Daneben wird ihnen mittels 3D-Rekonstruktionen Leben eingehaucht. Eingefärbt und vergrößert drehen sie sich auf einem Bildschirm, wodurch dem Besucher deren komplexer Aufbau bewusst wird.
Wissenschaftliche Sensation
"Der Fund ist eine wissenschaftliche Sensation", sagte NHM-Direktor Christian Köberl am Tag vor Ausstellungsbeginn. Bis vor Kurzem war man davon ausgegangen, dass die 580 Millionen Jahre alte "Ediacara-Fauna" in den südaustralischen Ediacara-Hügeln das erste mehrzellige Leben dokumentiert, aus dem sich die heutigen Organismen entwickelt haben. Seit dem Fund in Gabun muss man davon ausgehen, dass es schon viel früher vielzelliges Leben gab - und, dass es mehr als einmal entstanden ist. Die ältesten einzelligen Organismen (Bakterien und Blaualgen) sind 3,5 Milliarden Jahre alt, sie wurden in Australien entdeckt. Die Erde ist vor rund 4,5 Milliarden Jahren entstanden.
Die Entstehung der nach dem Fundland benannten "Gabonionta" fällt in eine Zeit entscheidender Veränderungen in der Erdgeschichte, die auch für uns bedeutend sind: Vor 2,4 bis 2,3 Milliarden Jahren stieg der freie Sauerstoff in der Atmosphäre sprunghaft an. Auslöser dürften Bakterien gewesen sein, die über Photosynthese Sauerstoff produzierten. Dieser Sauerstoff schuf "die Möglichkeit für Größenwachstum und Mehrzelligkeit", sagte Mathias Harzhauser, Direktor der Geologisch-Paläontologischen Abteilung des NHM. Wenige 100 Millionen Jahre später sank der Sauerstoffgehalt allerdings wieder - laut Harzhauser ein Indiz, dass die "Gabonionta" ausgestorben sind. Sie waren ein Erstversuch des Lebens, ein Experiment. Erst mehr als eine Milliarde Jahre später unternahm die Natur einen zweiten Versuch. "Wäre diese Sauerstoff-Krise nicht gekommen, hätte sich eine komplett andere Welt entwickelt", so Harzhauser.
Geologischer Glücksfall
Die "Gabonionta" haben für Harzhauser "unser Bild der Evolution verändert". Sie waren vielzellig und wuchsen koordiniert. Einige Zellen dürften sogar miteinander kommuniziert haben. Auffallend ist laut Harzhauser, dass sich die 450 gefundenen Individuen in drei Formen untergliedern lassen - in drei Arten also.
Doch nicht nur die Fossilien selbst sind Nährboden für zahlreiche Forschungsarbeiten. Auch das Sediment, in das sie eingebettet sind, lässt interessante Schlüsse zu. So sind in dem Tonschiefer markante Wellenrippel erkennbar - Zeugnisse für ein seichtes Meer. Dass das Gebiet so lange Zeit nahezu unverändert geblieben ist und es trotz Plattentektonik keine starken Verschiebungen gab, ist ein geologischer Glücksfall.
Der marokkanisch-französische Geologe Abderrazak El Albani von der Universität Poitiers in Gabun hatte die Fossilien bereits 2008 entdeckt. Die wissenschaftliche Beschreibung im Fachjournal "Nature" folgte 2010. In Wien ist nur ein kleiner Teil ausgestellt - sobald die Schau beendet ist, kommt auch dieser in den Safe der Universität Poitiers zurück.