Islamisten sind bei Wahl Favorit, haben sich aber gespalten. Religiöse lösen bei säkularen Kräften Skepsis aus. | Ohne sozialen Aufschwung droht Demokratie zu scheitern.
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Tunis/Wien. Die neue Freiheit schafft Raum für politische Experimente. Rund 100 Parteien wurden in Tunesien seit dem Sturz von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali gegründet. Oft sind es nur kleine Vereinigungen, getragen etwa von ein paar Studenten, die noch um ihr Programm ringen. Und viele dieser jungen Bewegungen haben kaum Finanzen, sind nur in Hinterzimmern und nicht in der Öffentlichkeit präsent.
Dementsprechend gering sind die Chancen vieler Parteien am 23. Oktober, wenn das Land, von dem der arabische Frühling seinen Ausgang nahm, den nächsten Schritt in seinem Demokratisierungsprozess setzt. An diesem Tag bestimmen die Tunesier beim ersten freien Votum seit Ben Alis Vertreibung eine Konstituierende Nationalversammlung. Deren Legislaturperiode ist auf ein Jahr beschränkt, sie soll eine neue Verfassung ausarbeiten.
Das Plenum wird entscheidende Weichenstellungen für Tunesiens zukünftigen Weg vornehmen und etwa bestimmen, wie weit Staat und Religion getrennt werden.
Und genau bei diesem Punkt kommen bei vielen Tunesiern, die sich eine säkularisierte Politik wünschen, Ängste auf. Denn die Umfragen sehen die gut organisierten Islamisten in Führung, die ein Drittel bis die Hälfte der 218 Sitze einnehmen könnten.
Sammelbecken der Islamisten ist die An-Nahda-Partei, deren Vertreter unter Ben Ali verfolgt und ins Gefängnis geworfen wurden. Doch hat sich die Bewegung nun überraschend gespalten. Einer der Gründungsväter, Abdelfattah Mourou, will nun mit einer eigenen Liste antreten. Er schließt aber ein erneutes Bündnis mit der An-Nahda nach der Wahl nicht aus. Unklar blieb zunächst, ob persönliche Grabenkämpfe oder ideologische Differenzen zu der Trennung geführt haben.
"Werde ein militanter Islamist bleiben"
Genau so fraglich ist auch, wohin sich die Islamisten entwickeln werden. "Ich bin ein militanter Islamist und werde es bleiben", betont etwa Mourou. Gleichzeitig verlangt er demokratische Institutionen, die die Freiheit der Bürger gewährleisten. Auch der Anführer der An-Nahda-Partei, Rached Ghannouchi, sagt immer wieder, dass er nicht Teil eines Gottesstaates, sondern einer Demokratie sein will.
Trotzdem fürchten Skeptiker, dass dem Land ein religiöser Rechtsruck droht. Diese Bedenken werden von Berichten genährt, wonach die Islamisten Gelder von fundamentalistischen Kreisen aus den Golfstaaten erhalten sollen.
Als stärkste säkulare Kraft gilt die liberale Demokratische Fortschrittspartei, die unter Ben Ali geduldet war. Sie präsentiert sich als Garantin einer Trennung von Staat und Religion.
Sonst reicht das Spektrum von Kommunisten bis zu einer Bewegung namens Freie Patriotische Union, die von dem steinreich aus dem Exil zurückgekehrten Geschäftsmann Slim Riahi gegründet wurde.
Jedenfalls dürfte nur eine Handvoll Parteien aus dem weiten Kandidatenfeld den Einzug in die Versammlung schaffen. Ausgeschlossen von der Wahl sind etwa 10.000 hohe Funktionäre der ehemaligen Regierungspartei RCD, die verboten wurde.
Teilweise außerhalb von Parteien ist eine vor allem von jungen Leuten getragene Demokratiebewegung organisiert. Sie sorgt auch nach dem Sturz Ben Alis immer wieder für Proteste, wenn ihr Entwicklungen nicht passen. Der Druck der Straße wird laut Beobachtern auch in Zukunft wichtig sein. Sonst besteht die Gefahr, dass in Tunesien nur eine demokratische Fassade aufgebaut wird, hinter der die politische Klasse macht, was sie will.
Arbeitslosigkeit ist nach Revolution gestiegen
Ein entscheidender Aspekt ist auch die wirtschaftliche Entwicklung. Der Trend der Auslandsinvestitionen zeigt zwar nach oben. Die Arbeitslosigkeit - für viele junge Leute eine der wichtigsten Beweggründe für die Revolte gegen Ben Ali - ist aber nach der Revolution von 14 auf 19 Prozent gestiegen. Zudem leidet Tunesien unter den Kämpfen in Libyen, wegen denen hunderttausende tunesische Gastarbeiter in ihre Heimat zurückkehren mussten. Sollte sich die soziale und wirtschaftliche Lage in Tunesien nicht verbessern, könnte das demokratische Experiment in Misskredit geraten. Und dann drohen "die alten Kräfte wieder hochzukommen", warnt Klaus D. Loetzer von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis.
Tunesien, von dem der Funke der arabischen Revolutionen ausging, wäre dann Sinnbild für das Scheitern der Reformen.
Dossier: Arabische Revolution