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Experimentelle Archäologie

Von Martin Arnold

Reflexionen

Im oberschwäbischen Messkirch soll ein ehrgeiziges Projekt verwirklicht werden: Der Bau der St. Galler Klosterstadt - mit 52 Gebäuden und den Mitteln des 9. Jahrhunderts. Geschätzte Bauzeit: rund 40 Jahre.


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Mit solch historischem Werkzeug soll gearbeitet werden.
© Arnold

Die Umfriedung ist überwuchert. Nur ein Holzpferch erinnert an den Tag der offenen Tür 2011. Damals erfolgte hier in einem Waldstück östlich der oberschwäbischen Gemeinde Messkirch der symbolische Startschuss zu einem einzigartigen archäologischen Experiment. Das Gebiet heißt jetzt Campus Galli, und ab Mai wird hier der weltberühmte St. Galler Klosterplan mit seinen 52 Gebäuden nachgebaut - und zwar mit den Mitteln des 9. Jahrhunderts, als der Plan gezeichnet wurde.

Ideale Siedlung

Die Bauzeit wird auf 40 Jahre geschätzt, und solange können sich die Besucher auf eine spannende Zeitreise begeben. Der Maschinist der dafür benötigten Zeitmaschine heißt Bert Geurten. Der gelernte Kaufmann und freie Journalist aus Aachen ist einer jener wenigen Menschen, die selbst verrückte Jugendträume nie aufgeben. Als er vor bald 50 Jahren in Aachen ein Modell der St. Galler Klosterstadt sah, ging ihm diese damals für ideal gehaltene mittelalterliche Siedlung nicht mehr aus dem Kopf. Und als er hörte, dass in Guédelon im Burgund eine mittelalterliche Burg mit den im 13. Jahrhundert üblichen Werkzeugen seit 15 Jahren nachgebaut wird, erinnerte er sich an den St. Galler Klosterplan aus dem frühen 9. Jahrhundert. Diesem einzigen bekannten Architekturplan zwischen der Antike und dem 12. Jahrhundert will er nun in die dritte Dimension verhelfen - und zwar so, wie er damals gedacht war.

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Der Klosterplan aus dem 9. Jh. in einem Ausschnitt (Mitte).
© wikipedia

Der 112 x 77,5 Zentimeter große St. Galler Klosterplan ist für Geurten ein Stück Weltgeschichte. "Die Klöster waren die Universitäten der damaligen Zeit und St. Gallen war besonders bedeutend." Der Plan umfasst allerdings nicht nur eine Klosterkirche, sondern auch 52 Wirtschafts- und Wohngebäude. In einer solchen Anlage lebten im frühen Mittelalter rund 300 Menschen.

Der Plan war ein Geschenk des Abtes Haito von Reichenau an Abt Gozbert, der dem Kloster St. Gallen vorstand. Äbte fungierten zur damaligen Zeit auch als Reichsfürsten. Sie waren mächtig und wussten sich auch militärisch zu verteidigen. Besonders einflussreich war Abt Haito, der zum Beraterkreis von Karl dem Großen gehörte. Der karolingisch geprägte Plan besteht aus fünf mit Darmfäden zusammengenähten Pergamenten.

Weil Pergament kostbar war, nutzte ein Mönch später die Rückseite zur Niederschrift der Geschichte des heiligen Martin. Als der Platz nicht ausreichte, kratzte er kurzerhand ein Haus des Klosterplans auf der Vorderseite weg, um den Rest aufzuschreiben. Noch heute beschäftigen sich Forscher mit der Frage, wie dieses 52. Haus wohl ausgesehen haben mochte. Die Klosterstadt mit dem wohl frei interpretierbaren 52. Gebäude wird ab diesem Frühjahr entsprechend den Proportionen auf einer Fläche von 8,5 Hektaren im Laufe von vier Jahrzehnten realisiert. Und zwar mit Werkzeugen aus dem 9. Jahrhundert.

"Warum sagen wir: die Zeit vergeht, und nicht ebenso betont: sie entsteht?" fragte der deutsche Philosoph Martin Heidegger in seinem Werk "Sein und Zeit." In Bezug auf die nächsten 40 Jahre in dieser Waldlichtung könnte man den berühmtesten Sohn des Städtchens Messkirch durchaus so interpretieren: Hier entsteht Geschichte. "Wir müssen buchstäblich jedes Rad neu erfinden", erklärt Geurten.

Für rund ein Dutzend Mitarbeiter aus einem Arbeitslosenprojekt hat die Arbeit bereits begonnen. Sie flechten aus Weiden Transportkörbe, stellen die ersten Schaufeln und Dachschindeln her, nähen Arbeitskleider aus Flachs und üben schon einmal den Umgang mit Holzschuhen, die in Baden-Württemberg sogar als Sicherheitsschuhe akzeptiert sind.

Am Anfang jedes Werkzeuges und Kleidungsstücks steht wissenschaftliche Arbeit. Für jede metallumrahmte Schaufel, jeden Meißel oder Ochsenkarren wird der Wissenstand und das technische Niveau des 9. Jahrhundert erforscht. Sobald ein Konsens über ein Werkzeug besteht, lässt es Geurten nachbauen und ausprobieren. Selbst der Mörtel wird nach dem damals üblichen Rezept gemischt. Die Ochsen der Rasse "Hinterwäldler" müssen zuerst trainiert und die Karren, die sie ziehen, gebaut werden. "Das ist experimentelle Archäologie" erklärt Geurten. "Aus dem 9. Jahrhundert ist wenig überliefert."

Mit einer Anschubfinanzierung von einer Million Euro durch die EU, Baden-Württemberg und Messkirch kann Geurten mit der Arbeit beginnen. Die laufenden Kosten will der für das Projekt gegründete Verein Campus Galli mit dem Verkauf von Eintrittsbilletten decken. Mit 150.000 Besuchern sind die Betriebszahlen schwarz. Das ist realistisch, denn die nahe gelegene Pfahlbauersiedlung Unteruhldingen am Bodensee hat jährlich 300.000 Besucher.

Mit der experimentellen Archäologie erhofft sich Geurten nicht nur die Erfüllung eines Bubentraums, den viele Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen, wo er den Bau des Klosterplanes zuerst realisieren wollte, für verrückt erklärt haben. Zusammen mit den begleitenden Forschern möchte er vor allem wissenschaftliche Erkenntnisse über die karolingische Architektur und Bautechnik gewinnen. An den Arbeiten sind deshalb 18 Wissenschafter und fünf Universitäten beteiligt. "Die Klosterstadt wird zur wichtigen Quelle für viele Bachelor- und Doktorarbeiten werden", hofft Bert Geurten.

Helme mit Filzüberzug

Zu den wissenschaftlichen Begleitern gehört auch der St. Galler Stiftsbibliothekar Ernst Tremp. Er sieht im Bau der Klosterstadt in Messkirch auch einen Gewinn für die UNESCO-Stätte St. Gallen. Dem Stiftsbibliothekar kommt aber noch eine weitere Funktion zu. Sollte es zwischen der Gemeinde Messkirch und dem Verein Campus Galli je zu Streitigkeiten kommen, übernimmt er die Rolle eines Schiedsrichters.

Geurten versichert, dass der Klosterplan konsequent mit den Mitteln des 9. Jahrhunderts realisiert wird. "Die einzige Ausnahme sind Umweltschutz- und Sicherheitsvorschriften, die wir selbstverständlich erfüllen. Deshalb tragen die Handwerker einen Helm mit Filzüberzug." Wie damals üblich, errichten die Bauarbeiter zuerst eine Holzkapelle, die während der Bauphase als Provisorium dient, bis das Kloster fertig gebaut ist.

Bereits vor Baubeginn wirft der Klosterplan hohe Wellen. Freiwillige aus der ganzen Welt melden Geurten ihr Interesse an einer Mitarbeit an. Doch die Kapazität ist beschränkt. Zwischen Mai und November beschäftigt der Aachener regelmäßig 25 professionelle Handwerker und noch einmal so viele Freiwillige. Die Berufsschule für Polybau aus Uzwil im Kanton St. Gallen überlegt sich, ihre Lehrlinge jährlich eine Woche auf den Campus Galli zu schicken.

Roman über Nachbau

Geurten ist 63 und wird die Vollendung des Klosters wohl nicht mehr erleben. Er nimmt es mit Humor. "Das ist wie Moses, der die Israelis in Gelobte Land führte, es aber selbst nicht erreichte. Mein Wunsch wäre, dereinst im Kloster begraben zu werden. Dann können die Besucher für mich eine Kerze anzünden."

Die Chancen stehen gut dafür, dass er ein anderes Werk noch vollenden kann. Der Journalist möchte über den Bau der Klosteranlage einen historischen Roman schreiben, der zwischen Realität und Fiktion pendelt. Im Plot geht es darum, dass Karl der Große am Sterbebett seiner Frau Hildegard das Versprechen gegeben hat, ihr zu Ehren ein Kloster bauen zu lassen. Er hat es zu Lebzeiten nicht erfüllen können und den Auftrag seinem Vertrauten Abt Haito gegeben, der ihn nach St. Gallen weiterleitete. Um Hildegards Seelenheil zu garantieren, müsse die Klosterstadt innerhalb von 1200 Jahren realisiert werden.

Dass Geurten den Plan nun realisieren will, hat deshalb auch persönliche Gründe. "Ich habe es schriftlich, dass ich ein Nachfahre von Karl dem Großen bin."

Martin Arnold, geboren 1961, ist freier Journalist und Mitbegründer des Pressebüros Seegrund in Kreuzlingen (CH). Er lebt in St. Gallen.