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Experten für Mindestsicherung

Von Veronika Gasser

Politik

"Die Chancen für eine Gesamtreform im Sozialbereich wurden versäumt, die Gefahr wachsender Armut hat sich vergrößert." Unter diesem Aspekt analysierten und kritisierten der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos und der Sozialökonom Christoph Badelt die beschlossenen Sparmaßnahmen im Sozialsystem. Beide vermissen notwendige Schritte in Richtung einer ökonomischen Mindestsicherung für sozial Schwache und das Schließen bestehender Lücken im Sozialsystem.


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"Das Thema Armut wurde von der Regierung vernachlässigt", erläutert Tálos die vorgelegten Änderungen im Sozialbereich und er vermutet, dass "die Debatte zur Hebung der sozialen Treffsicherheit" einzig zum Zweck der Budgetentlastung geführt wurde. Seine These: Die Regierung spricht vom Zurückdrängen der Armut, doch mit den geplanten Vorhaben werden die Risken, in die Armut abzurutschen, treffsicher vergrößert. Auch Kollege Badelt bestätigt diese Analyse. Beide stellen die Notwendigkeit der Budgetreform außer Zweifel, doch nur dann, wenn sie mit dem Ziel der Armutsbekämpfung verknüpft werde. "Es wäre viel wichtiger, dass sich die Prioritäten an den Bedürfnissen der Schwächsten orientieren", erklärt der Wirtschaftsprofessor.

Problematisch sei, bekräftigen die Sozialexperten, dass "schon beim ersten Treffen der Arbeitsgruppen, ein Sparpotential von 3 Mrd. Schilling vorgegeben war". Seltsam sei auch, so Badelt, dass die Regierung einen Expertenbericht ankündigt, aber vorweg alle Maßnahmen beschließt. Beide Professoren hatten sich nicht an den Arbeitsgruppen beteiligt, "da eine seriöse Bewertung des Systems ein Mindestmaß an Zeit erfordere, die nicht gegeben war".

"Schon die Studie von 1992 über die Situation von Arbeitslosenhaushalten zeigte, wie wichtig die Familienzuschläge sind," erläutert Tálos. Die Einführung einer vierwöchigen Wartefrist auf Arbeitslosengeld sei angesichts der Entwicklung am Arbeitsmarkt "besonders problematisch". Immer mehr Arbeitsuchende bekommen nur mehr befristete Verträge angeboten. Mit der neuen Regelung werde die Belastung ausschließlich auf die Arbeitnehmer verteilt. "Selbst das derzeitige Sozialsystem ist überhaupt nicht auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt ausgerichtet", kritisiert der Politologe. Für ihn ist die zentrale Frage: Gibt es eine Existenzsicherung für alle, die in kein normales Arbeitsverhältnis kommen, oder für jene, die vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind?

Lücken wären zu schließen

Unter dem Aspekt der Treffsicherheit hätte die Regierung auch bestehende Lücken im Sozialsystem schließen können, meint Tálos: "Immer noch müssen 80 Prozent der Notstandshilfebezieher von weniger als 8.000 Schilling leben." Die Maßnahmen bei der Arbeitslosenversicherung bezeichnet Badelt als paradox: "Wir wissen, wie stark die Armutsgefährdung nach dem Verlust der Arbeit ist. Unbedingt notwendig wäre die Einführung einer Mindestsicherung." Sozial wäre es, wenn Reiche höhere Beiträge für den Familienlastenausgleichsfonds leisten würden, auch beim Steuersystem gäbe es einige Lücken zu schließen, bekräftigt der Sozialökonom in Hinblick auf die wieder revidierte Besteuerung von Stiftungen.

Auf die Frage, warum sich nicht viele Arbeitnehmer gegen die Maßnahmen entrüsteten, antwortet Badelt wörtlich: "Man muss nur mehrere Brände gleichzeitig legen, dann verteilt sich die Feuerwehr." Die Möglichkeit für weitere Reformschritte sieht der Ökonom, falls die Probleme zunehmen: "Vielleicht können und müssen wir dann die Debatte um Existenzsicherung neu beginnen."