Für Karel Schwarzenberg war die Finanzkrise ein moralisches Versagen der Staaten und Banken. Tschechiens ehemaliger Außenminister erachtet so manches in der EU als grotesk und die klassischen demokratischen Parteien als inhaltslos.
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Karel Schwarzenberg kennt Europa und die Politik von vielen Seiten: In Prag geboren, lebte er lange Zeit in Österreich, war Präsident der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte, unterstützte den Widerstand gegen das kommunistische Regime in der damaligen Tschechoslowakei und wurde dann im demokratischen Tschechien Außenminister seines Landes. Derzeit führt er die konservative Oppositionspartei Top 09 an. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem 76-Jährigen beim "7. Wiener Industriekongress 2014".
"Wiener Zeitung": Sie haben die Finanzkrise als eine moralische Krise bezeichnet. Warum?
Karel Schwarzenberg: Es war eine Explosion der Verantwortungslosigkeit. Die Staaten haben ihre Pflicht vernachlässigt, nämlich sehr sorgfältig die eigenen Finanzen in Ordnung zu bringen. Dadurch, dass sie sich alle verschuldet haben, haben sie die Banken motiviert, eine sehr expansive Politik zu betreiben. Da wir seit Jahrzehnten in fast allen europäischen Staaten über unsere Verhältnisse leben und uns immer mehr verschulden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn es einmal zum Krach kommt.
Haben die Banken hier nicht auch eine Verantwortung?
Die Verantwortungslosigkeit der Banken ist die zweite Seite. Den ganzen hochbegabten Knaben, die mit 28, 30 Jahren über den Computer über unglaubliche Summen verfügt haben, ist offensichtlich überhaupt nicht zu Bewusstsein gekommen, dass sie mit fremdem Geld ihre Risiken eingehen, dem der Sparer und gutgläubigen Kunden der Bank. Wenn jemand so mit seinem eigenen Geld wirtschaftet, ist er ein Verschwender. Wenn er es mit fremdem Geld macht, dann ist er ein Betrüger. Und da haben die Kontrollen völlig versagt. Ich fürchte, dass die älteren Herren im Vorstand und im Aufsichtsrat überhaupt nicht verstanden haben, was für Möglichkeiten es im elektronischen Zeitalter gibt. Wenn so verantwortungslos mit fremdem Geld umgegangen wird, dann ist das ein tiefer moralischer Bruch.
Ist diese moralische Krise schon überwunden?
Nein, man wird vielleicht etwas vorsichtiger sein, aber das ist alles.
Wird sich diese Krise auch auf die Wahl zum Europaparlament niederschlagen?
Sicherlich. Parteien, die nach einer Bestrafung der Banken rufen, werden einen gewissen Erfolg haben. Die Banken haben zwar ihre Schuld, aber niemand spricht von der Schuld der Staaten und Politiker, dabei ist diese noch größer.
Hat man mit der Austeritätspolitik richtig auf die Krise reagiert?
Ja, ja und nochmals ja. Was ist das für eine Vorstellung, dass wir weiter auf Verschuldung leben, als ob nichts passiert wäre? Heute herrscht das Dogma vor, dass es Wachstum geben muss. Jahrhundertelang hat die Menschheit aber ohne großes Wachstum gelebt. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die goldenen Jahre vorbei sind. In den Jahrzehnten nach dem Krieg musste man allerhand neu aufbauen. Heute haben wir ein Überangebot. Zudem ist Europa gewaltig in seiner Konkurrenzfähigkeit zurückgefallen. Industrien sind in andere Weltgegenden abgewandert, und die modernsten Universitäten gibt es in Indien, China oder den USA, aber nicht in Europa.
Aber verschärft man mit der Austeritätspolitik nicht ein anderes riesengroßes Problem, nämlich die Arbeitslosigkeit?
Diese ist ohne Zweifel ein Problem. Nur, wenn wir uns jetzt weiter verschulden, verschieben wir dieses Problem und lösen es nicht.
Aber woher sollen Arbeitsplätze kommen? Sie nehmen hier am Wiener Industriekongress teil. Durch eine Reindustrialisierung?
Ja, aber dafür brauchen wir neue Produkte. Jedoch haben wir zu wenig qualitätsvolle Forschung, wir haben zu wenig neue Ideen. Nur so können wir aber die Arbeitslosigkeit beseitigen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir bei gewissen Produkten nicht mehr konkurrenzfähig sind, und müssen sie durch andere ersetzen. Wenn wir die Arbeitszeit verkürzen, dann lösen wir das Problem nur kurzfristig und verlieren erst wieder an Konkurrenzfähigkeit.
Fürchten Sie nun bei der EU-Wahl eine Stärkung der Ränder?
Das scheint sich abzuzeichnen. Zahlreiche Nationalisten und Populisten werden ins Parlament einziehen, auch bei der Linken wird es eine Zunahme geben. Es wird ein fröhliches Parlament werden. . .
Ist das eine Auswirkung der Krise?
Nicht nur. Freilich hat historisch jede Wirtschaftskrise zu einer Zunahme von radikalen Parteien geführt. Gleichzeitig aber werden die klassischen demokratischen Parteien inhaltslos. Die in der Europäischen Volkspartei vereinigten Kräfte und die Sozialdemokraten sind sich so ähnlich geworden, dass Sie die meisten Politiker auswechseln können. Es gibt ja den schönen Spruch: Die begabteste sozialdemokratische Regierungschefin ist Angela Merkel.
Gleichzeitig wird ja geklagt, dass die Distanz zu Europa wächst. Teilen Sie diesen Befund?
Ja. Meiner Meinung nach ist der einzige Ausweg, dass wir in Europa endlich das Prinzip der Subsidiarität ernst nehmen. Denn es ist eine groteske Konstruktion: Verteidigungs-, Außen- und Energiepolitik sind national, während wir einheitliche Vorschriften für Käse oder die Benennung von Marmeladen haben. Wir müssen in wesentlichen Funktionen die Union stärken. Aber alles, was auf nationaler oder regionaler Ebene gelöst werden kann, soll auch dort gelöst werden.
Aber werden das die Bürger mittragen, wenn so entscheidende Bereiche wie die Sicherheitspolitik in Brüssel entschieden werden?
Die Bürger in der Wachau wären äußerst erfreut, wenn sie ihr Marillenprodukt traditionell benennen können. Aber kein europäischer Staat ist stark genug, um eine selbständige Verteidigungspolitik zu machen, um seine Außenpolitik weltweit durchzusetzen, und ganz Europa ist von Energieimporten abhängig.
War es auch in der Ukraine-Krise eine Schwäche, dass es zu wenig gemeinsame Außenpolitik gibt?
Sicherlich. Zudem war die Reaktion Europas (gegenüber Russland, Anm.) zu schwach. Einer glatten Aggression, der Besetzung eines Teiles eines Nachbarlandes, die Untergrabung der Stabilität durch bewaffnete Gruppen in anderen Teilen dieses Landes, dem muss man sofort entgegentreten, und zwar mit aller Energie.
Spielt hier nicht hinein, dass Europa Russland wirtschaftlich braucht?
Ja, aber auch Russland braucht uns, das ist eine gegenseitige Abhängigkeit. Es kann sein, dass wir durch die Sanktionen ein, zwei Prozentpunkte weniger Wachstum haben werden. Aber wenn ich daran erinnern darf: Unsere Großväter und Urgroßväter haben für die Freiheit Blut vergossen. Wenn wir nur eine Einkommensherabsetzung haben werden, dann sollten wir alle zu Fuß nach Mariazell pilgern.