Zum Hauptinhalt springen

Explosion des Bürgersinns

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Italien erprobt neue Methoden des zivilen Zusammenlebens.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Rom. Diese Helden verdienen internationale Aufmerksamkeit: Selina und Stefano, die beiden Elfjährigen, die den Inhalt des von ihnen gefundenen, prall gefüllten Geldbeutels nicht etwa in Süßigkeiten investierten, sondern bei der Polizei ablieferten. Unbedingt hervorzuheben wäre auch Francesco Libardi, der einer alten Dame seinen Platz im Bus freimachte. Und schließlich sie, die wahre Märtyrerin, Maria Donatella Marinelli. Ihr Auto war eingeparkt, aber anstatt die in Italien meistverbreitete Gegenmaßnahme zu ergreifen - den exzessiven Gebrauch der Hupe -, ließ sie Besonnenheit walten und ging nach ein paar Stunden schlicht zur Polizei.

In Italien sind neue Zeiten angebrochen. Mit Blick auf das politische Geschehen wirkt das überraschend. Aber man muss eben nicht nach Rom, sondern in die kleineren Gemeinden blicken. Dort trägt sich Ungeheuerliches zu. Im norditalienischen Städtchen Trient etwa werden Bürger für ihr ziviles Verhalten belohnt. Die oben genannten Helden bekamen von der Stadtverwaltung für ihre Verdienste um die Gesellschaft Bücher und Preisnachlässe im öffentlichen Nahverkehr. Italien, so scheint es, hat endlich ein Mittel gefunden, um seine größte Schwäche zu bekämpfen, die allergische Reaktion auf jede Art von Regulierung. Fortan wird nicht mehr bestraft, sondern belohnt.

Belohnung statt Strafe

In Trient soll das nach Augenzeugenberichten zu einer regelrechten Explosion von Bürgersinn geführt haben. Fahrradfahrer steigen nun sogar an Fußgängerampeln ab, Autofahrer bremsen gelinde vor Pfützen ab. Denn sie wissen: Hinter jeder Ecke kann ein Verkehrspolizist lauern, der ihnen Punkte auf der städtischen Belohnungs-Skala verschaffen kann. Die 50 Vorbildlichsten im Jahr bekommen Preise.

"Allein mit Strafen geht es nicht", hat Bürgermeister Alessandro Andreatta herausgefunden. "Man muss das Beste aus den Leuten herausholen." Die Belohnung der Leuchttürme des zivilisierten Zusammenlebens soll auch die Übeltäter anstecken.

Italienkenner werden nun einwenden, dass Trient weit im Norden Italiens liegt und der protestantisch-teutonischen Ordnungsliebe deshalb nicht fernsteht.
Und tatsächlich werden in Rom noch einige Regierungskoalitionen zerbrechen müssen, bevor man in der Hauptstadt ungefährdet einen Zebrastreifen überqueren kann.

Doch es scheint, als breite sich langsam ein eng geflochtener Teppich höchsten Bürgersinns auf dem Stiefel aus. Wer im toskanischen Seebad Forte dei Marmi kompostiert, muss weniger Müllgebühr bezahlen. Mailänder Barbesitzer erhalten kostbare Drucke, wenn sie Spielautomaten aus ihren Etablissements verbannen. Wer in Neapel alle Kommunalabgaben bezahlt, kann mit einer Ermäßigung bei der Kfz-Versicherung rechnen. Auch in Crotone, Foggia, Sorrento wird Gesetzestreue prämiert.

Nur im kleinen Arzignano bei Venedig könnten sich die kulturellen Erzieher verschätzt haben. Wer hier das Fahrrad im Alltag benutzt, der darf auch noch umsonst ins Fitnessstudio. Zu rechnen ist mit einer Bürgerschaft, die bald an den Rand ihrer Kräfte gelangen könnte. Völlig erschöpft vor lauter Zivilisation.