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Exzentrischer Hexenmeister

Von Bruno Jaschke

Reflexionen
Eines der wenigen Fotos von Thomas Pynchon, 1955.
© © Bettmann/CORBIS

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Es ist im Endeffekt zweitrangig, warum sich ein Künstler aus der Öffentlichkeit zurückzieht - ob er sich dadurch auf perfid-raffinierte Weise interessant machen will, ob er an einer ausgeprägten Soziophobie leidet, oder ob er einfach "in Ruhe gelassen" werden will. Fakt ist: Dies ist eine Art der Existenz, die viel Konsequenz und sehr intakte Immunkräfte gegen die Versuchungen einer gewissen menschlichen Grundeitelkeit erfordert. Obendrein setzt sie eine asketische Selbstbescheidung voraus.

Denn immerhin lebt der Kulturschaffende von der Öffentlichkeit. Auch der Literat. Daher gebietet ihm nicht nur der Eigennutz, sondern auch das Interesse seiner Verwertungsinstanzen (Agent, Verlag), ebendiese Öffentlichkeit zu suchen.

Studium bei Nabokov

Thomas Pynchon aber hat irgendwann in den frühen 60er Jahren den Rollbalken heruntergelassen und verriegelt. Die Legende sagt, dass ihm das öffentliche Interesse nach dem Erfolg seines ersten Romans "V" zuwider war und Pynchon vor allem die Vorstellung nicht ertrug, abgelichtet zu werden. Auch dieser Widerwillen beruht auf einer Folklore, die kurioserweise geradewegs auf die wenigen definitiv existierenden Fotos Thomas Pynchons aus den mittleren 50er Jahren zurückgeht.

Diese Bilder zeigen einen jungen Mann mit an sich attraktivem Gesicht, aber wenig vorteilhaftem "Bugs Bunny-Gebiss", also vorstehenden Schneidezähnen oben in der Mitte. Entstanden sind deren meiste bei der Navy, in der Pynchon von 1955 bis 57 gedient hatte, ehe er sein Studium der englischen Literatur bei Vladimir Nabokov in Cornell wieder aufnahm, abschloss, danach kurzfristig bei Boeing arbeitete und sich fürderhin dem Schreiben widmete.

Nach dem Erfolg von "V" flüchtete Pynchon, damals in Mexico City lebend, aus seinem Haus, als ihn Bildreporter aufspürten, und nahm einen Bus in die Berge. Zeit seiner literarischen Existenz - das sind mittlerweile gut 50 Jahre - hat Pynchon sein Inkognito vor der Öffentlichkeit nicht gelüftet. Er ist damit zum größten Mysterium der Gegenwartsliteratur, ja zu einem der größten lebenden Mythen überhaupt geworden.

Nicht an Bildern festgemacht werden zu können, hat ihn zum Ziel teils abenteuerlicher Spekulationen gemacht: Eine Zeit lang wurde weithin angenommen, hinter Thomas Pynchon verstecke sich eine mehrköpfige Autorengruppe. In den 1980er Jahren machte das Gerücht die Runde, Pynchon sei "Wanda Tinasky", ein/e Autor/in, der/die sich sachkundig und stilsicher als Leserbreifschreiber/in in kalifornischen Lokalzeitungen zu literarischen Themen äußerte. Bis zur Verhaftung von Ted Kaszynski 1996 wurde Pynchon sogar als mögliche Inkarnation des sogenannten Una-Bomber gesehen, der durch Briefbomben universitäre und ökonomische Würdenträger getötet und verletzt hatte.

Pynchon betreibt diesen Abwehrkampf gegen die Offensivkräfte von Voyeurismus und Publizitätssucht allerdings nicht ohne spielerische Anmut und kleinere Beiträge von eigener Seite. Drei Episoden der Zeichentrickserie "The Simpsons", in denen er mit braunem Sack über den Kopf dargestellt wurde, lieh er seine Stimme. Dasselbe tat er für einen auf YouTube abrufbaren Trailer, in dem er den Anfang seines letzten Romans, "Inherent Vice" ("Natürliche Mängel"), liest. Als der Schauspieler John Larroquette in der selbstbenannten, 1993 bis 1996 auf NBC ausgestrahlten Show Anspielungen auf Pynchon machte, wurde er von diesem über seine Agentin in einigen Fakten korrigiert. Diese Agentin ist zufälligerweise Pynchons Frau Melanie Jackson. Mit ihr hat er einen Sohn, Jackson.

Der Fernsehsehsender CNN hat Pynchon 1997 in New York aufgespürt und tatsächlich ins Bild gebracht. Nach langer Diskussion entsprach CNN dem Wunsch des Autors, ihn in seinem viereinhalb Minuten langen (heute noch auf YouTube und für Windows-User auch auf der sendereigenen Website einsehbaren) Beitrag nicht kenntlich zu machen. Neckisch überlässt es CNN dem Zuschauer, Pynchon im Strom New Yorker Passanten dingfest zu machen.

Wohnsitz Manhattan

Als weiß- und langhaarig, bärtig, bebrillt, konventionell gekleidet beschreibt ihn die Journalistin Nancy Jo Sales, die 1996 für das "New York Magazine" Pynchons Spur aufgenommen hatte. Die berühmt-berüchtigte Zahnstellung, schreibt Sales, sei mittlerweile offenbar reguliert worden. Pynchon lebe in Manhattan in einer soliden, liberalen Nachbarschaft mit guter U-Bahn-Anbindung, erledige Einkäufe, treffe hin und wieder Autorenkollegen zum Lunch. Gerüchten zufolge wurde er mit Frau und Kind bei einem Picknick gesichtet, bei Spaziergängen, verschiedenen Parties - aber wunderbarerweise hat der Ring von Freunden, die Pynchons Privatsphäre gegen Einblicke und Nachfragen schützen, bis heute dicht gehalten.

Schon Anfang der 1990er Jahre, kurz nach der Veröffentlichung seines dritten Romans, "Vineland", wollen die deutschen Journalisten und Literaturexperten Herbert Debes und Goedart Palm für die mittlerweile zu einem Portal mit gelegentlichen Printausgaben umgewandelte Literaturzeitschrift "Glanz & Elend" (www.glanzundelend.de ) Pynchon in Kalifornien zu einem Interview getroffen haben. Dass sie "auf Geheiß des Autors" den Platz und das Ambiente der Zusammenkunft nicht preisgeben, verwundert nicht besonders, auch nicht, dass Pynchon nicht auf biografische Fragen eingeht.

Der Inhalt und die formale Gestaltung des "Interviews", das immer wieder durch Anmerkungen des Übersetzers ergänzt ist, scheinen jedenfalls glaubwürdig. Ob es aber vielleicht trotzdem ein besonders genialer Schwindel ganz im Sinne Pynchons ist? Da lacht Herbert Debes. "Jedes Wort stimmt so, wie es drinnensteht", versichert der Herausgeber von Glanz & Elend. "Daraus können Sie die Schlüsse ziehen, die Ihnen belieben."

Es ist im Einleitungstext zum Interview von einem "klandestinen Gespräch" die Rede. "Klandestin" heißt "heimlich", im übertragenen Sinn auch "inoffiziell" - nicht aber "gefälscht" oder "erfunden". "Es ist ja auch durchaus signifikant, dass er mit uns gesprochen hat und nicht etwa mit dem ,Spiegel‘ oder der ,Zeit‘. Das gibt es aber häufig, dass Autoren nur mit sehr bestimmten und nicht unbedingt immer den weitestverbreiteten Medien sprechen. Das ist bei Handke nicht anders", erklärt Debes, der anmerkt, dass Pynchon ausgezeichnet Deutsch könne - was auch die Lektüre seiner Bücher, besonders der Monster-Romane "Die Enden der Parabel" und "Gegen den Tag", ebenfalls zu belegen scheinen.

Wie auch immer - wenn Nancy Jo Sales im "New York Magazine" von Pynchon das Bild eines normalen Stadtbewohners zu zeichnen bemüht ist, so offenbart sich im "Glanz & Elend"-Interview der exzentrische Hexenmeister, der die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, in Vexierbildern einer gebrochenen und absolut unzuverlässigen Vernunft darstellt. Klare Worte findet er allerdings für seine Zurückgezogenheit: "Schriftschausteller, die sich in das Schlangennest des Betriebs eingenistet haben, verlieren die Fluchtpunktperspektive, die allein gute Aufnahmen garantiert. Die Deprivation, die der öffentliche Zirkus bereithält, ist wohl ein hoher Preis für nichts. Unsere schöne neue Telekommunikation demokratisiert das Geschwätz, aber liquidiert die Dichtung."

Pynchon interpretiert also seine Abschottung gegen die Öffentlichkeit als Schutz seiner Literatur. Die dunklen, seine gesamte literarische Karriere umfassenden Stellen seiner nunmehr 75-jährigen Biografie sind in diesem Sinne also sein großer Erfolg. Thomas Pynchon gilt gemeinhin als der wichtigste US-Autor nach dem Zweiten Weltkrieg.

Pynchon hat bis heute sieben Romane veröffentlicht, denen ein Band Kurzgeschichten ("Spätzünder", 1984) flankierend zur Seite steht. Vermeintlich nicht übertrieben viel, aber drei seiner Bücher sind in der deutschen Übersetzung über tausend Seiten dick: "Die Enden der Parabel", von Elfriede Jelinek 1981 gemeinsam mit Thomas Piltz ins Deutsche übertragen, "Mason & Dixon" (1998) und "Gegen den Tag" (2006), das mit seinen 1600 Seiten eineinhalb Kilo schwer ist und tunlichst nicht immer mit dem selben Arm aufgehoben werden sollte (Muskelkater!).

In all seiner "enzyklopädischen Informationsfülle" (Wikipedia) schwirrt Pynchons Œuvre, dessen "kleinere" Exponate - das 200 Seiten-Skelett "Die Versteigerung von No. 49" ausgeklammert - immer noch an die 500 Seiten füllen, mit eigentümlicher Leichtigkeit durch verschiedene Epochen und Landschaften. Einige tauchen öfter auf, wie das Kalifornien der Hippie-Zeit (oder knapp davor) in "Die Versteigerung von No. 49", "Vineland" und in seinem letzten Buch, "Natürliche Mängel". Die Romane "V", "Die Enden der Parabel", "Mason & Dixon" und "Gegen den Tag" zeigen Pynchon demgegenüber als geschichtssicheren Kosmopoliten.

Flatterhafte Existenzen

Was auch immer der Schauplatz ist - übrigens auch einmal Wien - , er trägt einige bei Pynchon immer wiederkehrende Handlungsmuster, Eigenschaften und Motive: die Gewalt von Staat und Kapital im Konflikt mit der Sehnsucht nach individueller Freiheit; Besessenheit, Aberglauben, Phantasmen, Drogen, Paranoia, Wahnvorstellungen.

Allein die auf sie einwirkenden Bedingungsgefüge verwehren Pynchons Helden jegliche Ansprüche auf Idealitäts-Weihen. Im Gegenteil, sie sind ziemliche Spinner, oft flatterhafte Existenzen, Opfer ihrer Süchte, mit Anhäufungen von Neurosen. Einige sind durch ihre pure Skurrilität sympathisch wie "Doc" Sportello, der Protagonist von "Natürliche Mängel", einige just wegen ihrer Schwächen, wie Zoyd Wheeler in Vineland"; manche erregen Anteilnahme, wie Oedipa Maas in "Die Versteigerung von No. 49".

Ihnen gegenüber stehen Schlächter, Mörder und Folterer, Untote, Machtmenschen, Ausbeuter, korrupte Opportunisten, Psychopathen, sektiererische Sturköpfe und viele andere Formen menschlicher Monstrosität in unterschiedlichsten Intensitätsstadien. Dazu noch einmal Pynchon im "Glanz & Elend"-Interview: "Meine Figuren sind Abziehbilder, aber realer, als sie bisher wahrgenommen werden. Surreal mag das nur jenen erscheinen, die zum Heil ihrer Selbstverfassung schon so tief in dem offiziellen Diskurs verstrickt sind, dass sie ihre eigenen Unheilspotentiale in einer geschlossenen Notzuchtanstalt verbergen müssen".

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger "extra"-Mitarbeiter ("bücher", "music").