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EZB-Chef Mario Draghi drückt die Zinsen fast auf die Null-Linie

Von Thomas Seifert aus Frankfurt

Wirtschaft

Europas Notenbanker sehen Inflationsgefahr in weiter Ferne.


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Frankfurt. Das Spiel heißt "€conomia", man kann es von der Website der Europäischen Zentralbank (EZB) herunterladen und es läuft auf dem Computer und auf mobilen Endgeräten. Das Ziel des nicht sehr actiongeladenen Computergames lautet, die Inflationsrate nahe bei zwei Prozent zu halten. Senkt man im Spiel die Zinsen, dann brummt die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit sinkt, aber die Preise schnellen in die Höhe. Erhöht man die Zinsen, dann kehrt wirtschaftliche Eiszeit in Europa ein, die Menschen gehen auf die Straße, um gegen die steigende Arbeitslosigkeit zu demonstrieren, dafür bleiben die Preise stabil.

So einfach ist die Sache für den Chef der EZB, Mario Draghi, freilich nicht, das Wirtschaftsleben ist eben kein Computerspiel, die Realität ist eben komplexer.

Die Zentralbanker arbeiten daher mit ausgefeilten Modellen, beobachten die Öl- und Energiepreise und sogar das Wetter, weil das Aufschluss über die Bautätigkeit in Europa – was die Arbeitslosigkeit beeinflusst – und die Weizen-, Mais-, und Soja-Ernte – was Rückschlüsse auf die zu erwartenden Lebensmittelpreise – und damit die Inflationsentwicklung zulässt.

Und weil die Ökonomen der EZB damit rechnen, dass die Preise auch in Zukunft kaum steigen, verkündete Mario Draghi am Donnerstag eine Senkung des Zinssatzes auf 0,25 Prozent. Der Einlagenzinssatz bleibt unverändert auf null Prozent.

"Bei der heutigen Zinssenkung ging es Mario Draghi schlicht und einfach um die Inflationserwartung", schreibt der in Frankfurt lebende Chefökonom der holländischen ING-Bank Carsten Brzeski in einem Email an die "Wiener Zeitung". Und tatsächlich: In Draghis Ausführungen vor den im Euro-Tower in Frankfurt versammelten Journalisten spricht er davon, dass wir eine "prolongierte Periode niedriger Inflation vor uns haben, gefolgt von einem langsamen Anstieg auf unter, aber nahe der Zwei-Prozent-Marke."

Experten überrascht

Bei der Pressekonferenz von EZB-Präsident Draghi im Oktober deutete noch wenig auf eine kommende Zinssenkung hin und bei Gesprächen der "Wiener Zeitung" mit Experten des Direktoriums für Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission in Brüssel am Anfang der Woche lautete der Konsens noch, dass es frühestens im Dezember zu einer Zinssenkung kommen würde.

Draghi hat die Experten überrascht. Sein Kalkül: Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex ist laut den Eurostat-Statistikern von 1,1 Prozent Preissteigerung im September 2013 auf 0,7 Prozent im Oktober gesunken. "Offenbar hat das Sinken dieses Werts stärkeren Eindruck auf die EZB gemacht, als wir das erwartet haben", erklärt ING-Experte Brzeski.

Weil nämlich weder die Preise für unverarbeitete noch für verarbeitete Lebensmittel besonders gestiegen sind, noch die Energiepreise, können es sich die Notenbanker leisten, unbesorgt zu sein. Und da das Wachstum in den bisherigen Wachstumsmärkten zur Zeit eher moderat ist, sitzt auch die Textil- und IT-Industrie in Süd- und Ostasien auf Überkapazitäten, was dazu beiträgt, dass auch die Preise für Kleidung oder Elektronik-Artikel nicht besonders steigen werden.

Droht japanische Deflations-Malaise?

Und wo sieht die EZB Risiken für hinkünftig wieder steigende Preise? In höheren Rohstoffpreisen oder indirekten Steuern. Plus: Wenn das ohnehin anämische Wirtschaftswachstum nachlässt, könnte die Inflationsrate – vor allem angesichts des Heers an Arbeitslosen in Europa und damit einhergehenden schwachen Aussichten auf Lohn- und Gehaltserhöhungen – weiter fallen und damit in Deflations-Territorium absinken.

Dieses "D"-Wort nimmt dann nämlich ein japanischer Journalist in seiner Frage in den Mund. Tatsächlich hatten ja zuletzt einige Experten die Befürchtung geäußert, dass Europa jene japanische Deflations-Malaise droht, die im Land der aufgehenden Sonne nach dem Platzen der dortigen Immobilienblase 1991 zum "verlorenen Jahrzehnt" mit Nullwachstum und – für japanische Verhältnisse – hoher Arbeitslosigkeit geführt hatte.

Deflation bedeutet sinkende Preise und entgegen der Konsumenten-Intuition ist das alles andere als eine feine Sache: Wenn nämlich die Konsumenten davon ausgehen, dass das Auto, das sie eben noch anschaffen wollten, im nächsten Monat noch billiger sein wird, werden sie den Kauf immer wieder aufschieben. Das Auto wird nicht gekauft, die Nachfrage sinkt, es werden weniger Autos produziert und am Ende kündigen die Automobilkonzerne Arbeiter. Wer keinen Job hat, kauft aber weniger – was die Deflationsspirale weiter anheizt.

Heute gilt Deflation daher in Ökonomen-Kreisen als gefährlicher und schwieriger zu bekämpfen als Inflation: Inflation lässt sich mit höheren Zinsen bekämpfen, was aber bringt eine Zinssenkung, wenn die Zinsen bereits nahe Null – wie derzeit der Fall – liegen?

Euro auf Talfahrt

Auffällig ist, dass ein Begriff in den Ausführungen Draghis völlig fehlte: Der in Vergangenheit gegenüber dem Dollar angestiegene Wechselkurs. Die niedrigeren Zinsen haben den Euro auf Talfahrt geschickt, kurz vor Börsenschluss in Frankfurt war der Euro auf 1,337 Dollar pro Euro gefallen, in der Früh lag er noch bei rund 1,353 Dollar – die europäischen Exporteure dürften sich freuen, auch wenn längerfristig ein weiterhin hoher Euro-Kurs zu erwarten ist: Denn die Eurozone hat nämlich – verglichen mit den anderen großen Wirtschaftsmächten USA und Japan – die geringsten Defizit-Zahlen, die beste Leistungsbilanz und die niedrigsten Schulden.

Die Zinssenkung deutet jedenfalls darauf hin, dass die EZB unter Mario Draghi pragmatischer und aktiver geworden ist, als unter Vorgänger Jean Claude Trichet. ING-Volkswirt Brzeski meint, die EZB operiere nach dem Motto: "Hilft’s nicht, so schadet’s nicht", denn Inflationsgefahren seien weithin keine am Horizont sichtbar. Noch eines stellte Draghi in seiner Pressekonferenz klar: Selbst wenn die Zinsen nun  nahe bei Null lägen, es gäbe noch weitere "Artillerie" – auch wenn die Wirtschaft bei einer Zinssenkung nicht so folgsam anspringt wie im EZB-Computerspiel "€conomia".

Link zum EZB-Spiel €conomia

Einführungsstatement von EZB-Präsident Mario Draghi

Pressekonferenz-Video