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Fahrt ins Ungewisse

Von Veronika Eschbacher aus Charkiw

Politik

Die Ukrainer sind auf der Suche nach jemandem, der ihnen sagen kann, wie die Zukunft aussieht. Für den heutigen Freitag werden neue Zusammenstöße erwartet.


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Charkiw. Bereits eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt sitzt Lidija Andreewna im Schlafabteil des Nachtzuges aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach Charkiw. Ihre Liege ist bereits piekfein bezogen, die schweren Koffer darunter verstaut. Ihre Hände hat sie in ihrem Schoß gefaltet, die Füße der Pensionistin stecken in weißen Pantoffeln. "Hm", grummelt sie. "Die erste Überschwemmung auf der Toilette hat schon jemand angerichtet", fährt sie fort und zwinkert in Richtung eines Mit-Dreißigers, der ihr gegenüber bequem auf seinem Platz in seiner auffälligen Jogginghose in den ukrainischen Nationalfarben samt aufgenähtem Dreizack liegt und gelangweilt mit seinem Mobiltelefon spielt. "Ich bin fast gestürzt", sagt sie empört; nimmt schließlich aber zur Kenntnis, dass ihre Beschwerde dem jungen Mann gegenüber keine Miene entlockt.

Babuschka Lidija - Großmutter Lidija - wie sie gerne genannt werden möchte, ist eine der zahlreichen Ukrainer, die sich vor dem 9. Mai, dem "Tag des Sieges" der Sowjetunion über Nazi-Deutschland, auf die Reise machen - sei es in die Heimatstadt oder zu Verwandten und Freunden, um gemeinsam den Feiertag zu begehen, an dem sich Familien herausputzen und in die Stadtzentren aufmachen, Militärparaden bestaunen und den wenigen noch nicht verstorbenen Kriegsveteranen gratulieren.

Lidija ist heuer besonders aufgeregt. Das hat zwei Gründe: Erstens heiratet ihre einzige Enkelin am heutigen Freitag. Und zweitens versetzt der heurige Feiertag angesichts der angespannten politischen Lage sie - und das gesamte Land - in Aufruhr. Die politische Führung in Kiew lässt bereits seit Tagen wissen, dass man zum Feiertag mit verstärkten Provokationen vonseiten prorussischer Separatisten rechne. Wenn es bloß dabei bleibt: Viele reden gar von geplanten Terroranschlägen - im Südosten des Landes, aber auch in Kiew. Überall wird nun rund um die Uhr patrouilliert, öffentliche Gebäude werden verstärkt bewacht. Die Menschen sind aufgerufen, daheim zu bleiben. Fast alle Paraden, vor allem im Osten, wurden aus Sicherheitsbedenken abgesagt. Kaum einer geht aber davon aus, dass es ruhig bleiben wird.

Als sich der Zug in der Dämmerung in Bewegung setzt, blickt Lidija aus dem Fenster. "Keiner weiß heute, was morgen auf uns zukommt", sagt sie und streicht angespannt über ihren altrosa-farbenen Kostümrock. Da blickt plötzlich der junge Mann auf. "Was soll sein? Putin wird sich alles holen", sagt er mit verächtlichem Blick. "Es wird kurz, aber sicher nicht schmerzlos." Vadim erläutert, er sei elf Jahre bei der Armee gewesen und wisse, dass sie zu kaum etwas mehr tauge. Viel schmerzvoller als das Faktum, dass man sich im Fall des Falles gegen den übermächtigen Nachbarn nicht wehren könne, ist aber für den Mann mit den raspelkurzen Haaren und der schwarzen Lederjacke, wer die Ukraine derart in die Ecke getrieben hat, sodass das Land nun plötzlich über eine mögliche Spaltung nachdenken müsse. "Die Russen, unsere Brüder, die uns doch so nahestehen!", ist der Luhansker fassungslos. Früher hätte ein ukrainischer Soldat nie im Leben auf einen russischen geschossen. Heute, nach den Ereignissen rund um die Halbinsel Krim und den Unruhen im Osten, nachdem ihnen der Bruder derart in den Rücken gefallen sei, wären sie bereit dazu. Wenn man bloß den Feind genau erkennen würde. Aber auf Männer in Camouflage ohne Hoheitsabzeichen, die aktuell fast 20 Städte im Osten destabilisieren, zu schießen, fühle sich wie Mord an. Dazu seien die Ukrainer nicht bereit. Viel Hilflosigkeit und der Wunsch nach Führung schwingen in den Aussagen des Ex-Militärs mit.

Babuschka Lidija treibt das weitere Sorgenfalten auf die Stirn. "Ich habe aufgehört fernzuschauen", sagt sie. Sie könne die ganzen Ereignisse und Tragödien nicht mehr ertragen, schlafe seit Wochen schlecht. Sie selbst, "reinste Ukrainerin auch dem Blut nach", war mit einem Russen verheiratet, der früh verstarb. Jetzt ist sie auf dem Weg in die russische Grenzstadt Belgorod, gerade einmal 70 Kilometer von Charkiw entfernt, denn dort ehelicht ihre Enkelin - einen Russen. Lidija erwartet aber nicht, dass die russisch-ukrainischen Querelen und die Diskussion um die Zukunft ihrer Heimat bei der Feier auch nur einen Tag vom Tisch sein werden. "Alle reden darüber, am Tag, in der Nacht, am Markt, an der Bushaltestelle." Wie es aber wirklich mit dem Land weitergehen werde - darauf habe trotz aller Debatten heute keiner eine Antwort. Lidija will trotzdem versuchen, etwas zu schlafen.