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Fair Geknotetes aus dem Anti-Atlas

Von Lydia Matzka

Wirtschaft

In Amassine, einem Dorf in Marokko, lässt ein Österreicher faire Teppiche knüpfen, die zu ökologisch verträglichen Bedingungen hergestellt werden.


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Aicha Aït Yassin hat mit circa zehn Jahren zu knüpfen begonnen. Die Berberfrau schätzt ihr Alter heute auf 36. Wie fast alle Frauen ihrer Generation habe sie nie eine Schule besucht, erzählt sie.

Aicha ist eine der Frauen, die für das Projekt "Ait Khozema" des Steirers Wilfried Stanzer Teppiche knüpft. Im Dorf Amassine, 2.000 Meter hoch im Anti-Atlas gelegen, knüpfen je nach Bedarf zwischen 40 und 400 Frauen für den Betrieb von Stanzer und verdienen dabei zwischen 50 und 200 Prozent mehr als sonst wo in Marokko. Amassine zählt ca. 1.800 Einwohner. Die Bewohner leben neben der Teppichproduktion hauptsächlich von der Landwirtschaft.

"Normalerweise arbeite ich für das Projekt, doch wenn ich keine Aufträge habe, dann knüpfe ich für mich, erledige den Haushalt oder helfe einer Freundin", erzählt Aicha. Sie sitzt in einem unverputzen ca. 15 m² großen Raum, der gleichzeitig ein eigenes Knüpf-Haus ist. Neben ihr werkt Akia Safi (ca. 36). Sie wickelt geschickt einen Faden nach dem anderen um ihre braungebrannten und hennagefärbten Finger. Faden nach Faden, Knoten neben Knoten, bis aus den Tausenden Handgriffen ein bunter Teppich entsteht.

Bunte, handgeknüpfte Teppiche als Exportware

95 Prozent der "Aït Khozema"-Teppiche werden nach Europa exportiert. Zwischen 180 und 200 Stück werden im Jahr hergestellt. Farben und Muster wählt Wilfried Stanzer aus. Und er lässt sich dabei vom Musterschatz der marokkanischen Kultur leiten, ein Konglomerat aus berberischen, arabischen, jüdischen und zentralafrikanischen Elementen.

"Millimeterpapier ist für mich verpönt", sagt Stanzer. Er gibt nur grobe Vorgaben und lässt den Frauen ihren kreativen Freiraum. "Es gibt immer wieder Überraschungsmomente, dass die Frauen etwas hineinknüpfen, von dem ich vorher nichts wusste. Doch was anfangs vielleicht ungewohnt aussieht, gibt dann dem Teppich oft das gewisse Etwas", erzählt er mit einem Grinsen.

Die Teppiche sollen wie vor 150 Jahren hergestellt werden. Deshalb verwenden die Frauen die alten Muster und Symboliken und verzichten auf Chemiefarbe. Sie spinnen die Wolle mit der Hand und färben sie mit Pflanzen. Im Sonnenlicht leuchten die Pflanzenfarben viel kräftiger. Solche Teppiche zu knüpfen dauert viel länger als herkömmliche. Die Färbepflanzen müssen gesammelt, getrocknet bzw. zur Farberzeugung präpariert werden.

Bis 1890 wurde in Marokko ausschließlich Naturfarbe verwendet. Die Chemiefarbe haben die Franzosen eingeführt. Den Menschen haben die leuchtenden, reinen und chemisch hergestellten Farben gefallen, sie fanden rasche Verbreitung. Außerdem erleichterten und verkürzten sie die Arbeit. Heute verwendet kaum mehr jemand Naturfarben.

Symbolik und Frauensache

Nicht nur äußerlich - bei Farbkombination, Muster und Knüpftechnik - besinnt sich Stanzer auf die alten Traditionen. Er will mit den mythischen Symbolen auch das dazu gehörige Lebensgefühl wieder beleben. Die Raute ist das wichtigste Symbol der Berber. Sie stellt die Vagina dar und steht für Fruchtbarkeit. Weiters symbolisiert sie das Auge, das vor dem "bösen Blick" schützt.

Während sich die Männer hauptsächlich um die Landwirtschaft kümmern, war und ist das Teppichknüpfen Frauensache. Früher werkten sie fast ausschließlich für den Hausgebrauch. Die Frauen knüpften all ihre Hoffnungen, Wünsche und Ängste mit hinein. Durch die Kommerzialisierung der Teppichproduktion ist dieser mythische Vorgang verloren gegangen. Die Frauen knüpfen nicht mehr für sich selber, sondern für eine anonyme Kundschaft. Stanzer will den alten Zauber wieder einfangen. "Anfangs war es schwierig, den Frauen klar zu machen, dass die alten Muster wieder gefragt sind. Sie waren die kleinteiligen Muster für die maschinelle Erzeugung gewohnt, die die lokalen Händler vorher von ihnen verlangt hatten", erzählt Stanzer.

Ob Aicha Ait Yassin ihre Wünsche mit knüpft? "Nein, ich arbeite fürs Projekt. Wenn ich einen Teppich für mich machen würde, dann würde ich meine eigenen Wünsche einbringen", sagt sie lächelnd. Akia Safi nickt. Ob sie denn lieber etwas anderes als Teppichknüpfen tun würde? "Nein", sagt Akia, "auch wenn ich die Wahl hätte, würde ich Teppiche knüpfen, denn das gehört zu unserer Tradition."

Wilfried Stanzer und die Schweizer Stiftung

Das "Ait Khozema"-Projekt produziert für die Schweizer Stiftung Step. Diese engagiert sich seit fast acht Jahren für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und kämpft gegen missbräuchliche Kinderarbeit in der Herstellung handgefertigter Teppiche. "Aït Khozema" bezeichnet fünf Berber-Gruppen und heißt übersetzt "Söhne vom Lavendel".

Wilfried Stanzer ist seit fast 40 Jahren immer wieder in den Orient gereist. Als Dokumentarfilmer, Sachbuchautor und Teppichexperte war er vor allem im Iran und Afghanistan unterwegs. Dort eignete er sich umfassende Kenntnisse über die Teppichproduktion bzw. den -handel an. Für sein wissenschaftliches Werk bekam er vor zweieinhalb Jahren vom Bundespräsidenten den Ehrentitel "Professor" verliehen. Die Idee für das Projekt hatte Stanzer in Marrakesch im Zuge einer Konferenz der ICOC (International Conference on Oriental Carpets), deren Präsident er ist.

Das Step-Siegel für Unternehmen soll nach der Schweiz auch in Österreich in Zusammenarbeit mit der Südwind Agentur eingeführt werden. "Kinder, die jünger als 15 Jahre sind, dürfen nicht in einer Fabrik arbeiten", sagt Werner Dick von Step Schweiz.

Die Stiftung Step versucht, Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Erwachsenen zu nehmen, damit diese die Arbeitskraft ihrer Kinder nicht verkaufen müssen. "Wir fordern gerechte Bedingungen für Erwachsene, damit Kinder zur Schule gehen können", so Werner Dick.

Step führt in den Produktionsstätten unangemeldet Kontrollen durch und stellt so sicher, dass Teppiche unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Durch Aus- und Weiterbildungsprogramme, Beratung in Gesundheitsfragen und Projekte zur Förderung der Eigenständigkeit (Empowerment) der lokalen Bevölkerung will Step die Lebensbedingungen der Knüpferinnen sowie deren Familien nachhaltig verbessern. Derzeit werden Projekte in Indien, Nepal, Pakistan, Marokko und dem Iran durchgeführt. Des Weiteren setzt sich Step für die Förderung ökologisch verträglicher Teppichherstellungsverfahren ein.

Frauen verdienen

Neu beim traditionellen Teppichküpfen ist, dass die Frauen durch das "Aït Khozema"-Projekt erstmals Geld in die Hand bekommen. Bislang wurde der Verkauf der Teppiche über die Männer abgewickelt, welche sie am 70 km entfernten Wochenmarkt feilbaten.

Im Dorf gibt es einige Frauen, vor allem junge, die das verdiente Geld verwalten und selber Entscheidungen treffen, wofür sie es ausgeben. Auch wenn sie dabei ohnehin wieder in erster Linie an die Familie denken, ist es schon ein beachtlicher Fortschritt für eine traditionelle Gesellschaft wie jene der Berber, dass die Frauen einen Teil des Familieneinkommens verwalten dürfen. Akia Safi und Aicha Aït Yassin liefern ihr Geld trotzdem an die Männer ab. Freiwillig, wie sie beide schelmisch lachend beteuern. "Da wollen wir keine Verantwortung übernehmen", sind sich die beiden einig.

"Frauen gehen verantwortungsvoller mit Geld um", findet Rkia Zahnoun, Co-Chefin von "Kenitra Carpet", dem zweiten und größten Step-Zulieferbetrieb in Marokko. Die westlich gekleidete Frau trägt die langen dunklen Haare selbstbewusst offen. Sie lacht hell auf, als ihr eine Österreicherin anerkennend sagt, dass sie es faszinierend findet, dass sie als marokkanische Frau eine Führungsposition inne hat. Viele Frauen in Marokko hätten höhere Positionen inne, dies sei nichts besonderes; vor allem im urbanen Raum habe sich in den letzten Jahren viel getan, so ihre Antwort.

Erste Demokratieversuche und Alltagsprobleme

Ihr Vater, Abdallah Zahnoun, Chef von "Kenitra Carpet" weiß auch den Grund für die Veränderungen in Marokko: König Mohamed VI. brachte neuen Schwung ins Land, als er 1999 nach dem Tod seines Vaters Hassan II. die Macht übernahm. Mohamed VI. steht für Modernisierung und Öffnung. "Früher gab es eine strenge Zensur in Marokko, doch seit der neue König an der Macht ist, herrscht wieder freie Meinungsäußerung", ist Abdallah Zahnoun überzeugt.

Die Ernennung Driss Jettous zum Regierungschef durch den König nach den Parlamentswahlen im September des letzten Jahres war jedoch alles andere als astrein und seine Amtsausübung ist noch heute höchst umstritten. Der Traum von der Demokratisierung Marokkos durch den jungen Monarchen zerplatzte. Die Islamisten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) waren die eigentlichen Sieger dieser Wahlen.

Je weiter man sich von den Städten entfernt, desto weniger wird politisiert. Was spielt es auch schon für eine Rolle, welche Hand das Land führt. Die Bevölkerung von Amassine hat andere Probleme und lebensnahe Bedürfnisse. Strom gibt es nur für ein paar Stunden am Tag, vorausgesetzt ein Haushalt besitzt überhaupt über einen Generator. Kaum ein Haushalt verfügt über fließendes Wasser. Auch eine Kläranlage fehlt im Dorf. Die Schule ist schlecht ausgestattet, jeder Kugelschreiber ein Geschenk des Himmels.

Fällt die Schneeschmelze mager aus, prasselt nur wenig Wasser ins Tal. Kein Wasser zu haben, bedeutet unter anderem für die Frauen von Amassine, dass sie die Wolle nicht waschen können und so die Produktion der fairen Teppiche oft über Wochen brach liegt. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen in einer der kargsten Gegenden Marokkos, verfügen die Frauen über Stolz und das gute Gefühl, im Einklang mit der Natur zu arbeiten, fair entlohnt zu werden und sich nicht oder nur wenig durch Arbeit zu entfremden.

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Lydia Matzka ist Afrika-Redakteurin beim "Südwind Magazin", freiberufliche Journalistin und Fotografin. Sie lebt in Wien.

Für weitere Informationen:

Südwind Agentur (Laudongasse 40, 1080), Stefan Kerl, 01-405 55 15 DW 306, cck@oneworld.at

http://www.step-foundation.org

http://www.cleanclothes.at

In Österreich verkauft die Galerie "Kunst Stücke" in Graz (Sackstraße 20) STEP-Teppiche aus dem Aït Khozema-Projekt; Infos zum Projekt unter http://www.wortwerkstatt.at