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Santiago · "Distanz zur Vergangenheit" ist das unausgesprochene Motto im Wahlkampf um das Präsidentenamt in Chile. Die beiden Spitzenkandidaten, der Sozialist Ricardo Lagos von der Mitte- | Links-Koalition "Concertacion de Partidos Democraticos" und der rechtskonservative Joaquin Lavin (Union Democratica Independiente), haben am Sonntag mit der politischen Mitte das gleiche | Wählersegment im Visier. Das erklärt ihr Schweigen zum "Fall Pinochet", der in der Gesellschaft wie ein Spaltpilz wirkt. Umfragen lassen eine Stichwahl im Jänner erwarten.
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Nach der internen Ausscheidung der "Concertacion" im Mai, bei denen der Christdemokrat Andres Zaldivar die Segel streichen musste, deutete noch alles auf einen klaren Sieg von Lagos hin. Lavin
galt als unbeschriebenes Blatt. Das hat sich mittlerweile geändert. Wenige Tage vor den Wahlen präsentierte das Meinungsforschungsinstitut "Gemines" eine Studie, derzufolge der 45-jährige
Bürgermeister von Las Condes, einem Nobelviertel von Santiago, mit 41,7 Prozent bereits knapp vor Lagos (41,5 Prozent) lag. Für die zweite Runde sah "Gemines" Lavin knapp mit 44,5 gegen 44,1 Prozent
voran.
Selbst wenn das Wahlbüro "Comando Lagos" sogleich zur Gegenattacke blies und seinerseits eine Umfrage des Instituts "Mori" präsentierte, die den 61-jährigen Juristen und Ökonomen deutlich
favorisierte (42 zu 36 Prozent im ersten, 49 zu 38,8 Prozent im zweiten Wahlgang), ist klar: Der Kandidat der Concertacion hat an Terrain eingebüßt. Lagos war sich seiner Sache offenbar zu sicher und
überließ seinem Konkurrenten nicht nur die zugkräftige Parole "Cambio" (Wandel), sondern auch populäre Schlagworte wie "Kriminalität", "Drogen" und "Gesundheit" und vor allem "Arbeitsplätze durch
öffentliche Aufträge". In einem Land, in dem die Arbeitslosenrate in den vergangenen Jahren von 5 auf 11 Prozent anstieg, fand er so auch bei den Armen Gehör.
Dass sich der "Opus Dei"-Anhänger auch medienwirksam und mittels groß angelegten Wahlveranstaltungen in Szene setzen kann, dafür sorgen die konservativen Vertreter des chilenischen Unternehmertums,
die einen sozialistischen Präsidenten auf jeden Fall verhindern wollen. Lavin stehen für seinen Wahlkampf 30 Mill. Dollar (30,0 Mill. Euro/412 Mill. Schilling) zur Verfügung. Lagos Kampagne · der
frühere Erziehungs-, Transport- und Bautenminister fordert vor allem Wirtschaftsreformen · hingegen fiel unerwartet farblos aus. Nicht zuletzt deshalb, weil der größte Koalitionspartner "Democracia
Cristiana" seine Niederlage bei den Vorwahlen schwer verkraftete. Die Unterstützung für Lagos fiel halbherzig aus. So macher Christdemokrat dürfte aus Verbitterung gar für Lavin stimmen.
Die Programme liegen im Grunde gar nicht weit auseinander. Das bewies das programmatische Patt in einem TV-Duell, in dem Lavin und Lagos beinahe Einmütigkeit zeigten. 700.000 Arbeitsplätze in sechs
Jahren versprach Lagos, eine Million Lavin. Für die Armutsbekämpfung veranschlagte Lagos 8 Mrd. Dollar, Lavin erhöhte auf 8,4. Beide streben ein Wirtschaftswachstum von 7 Prozent an und beide halten
die Vergangenheit dezent im Hintergrund.
Die Vergangenheit wird dezent verschwiegen. Dass der 84-jährige Augusto Pinochet in London der Entscheidung über eine Auslieferung an Spanien harrt, ist für Lavin eine schwere Bürde. Als Vertreter
einer modernen aufgeklärten Rechten ist er an Abgrenzung interessiert, anderseits hofft er auf die Stimmen unverdrossener Anhänger des Ex-Dikators, die angeblich immer noch über 30 Prozent des
Wählerpotenzials ausmachen.
Lagos wiederum ist an der Hochhaltung der Erinnerung an Salvador Allende nur insoweit interessiert, als er zumindest bei der entscheidenden Runde Anfang des kommenden Jahres auch die Stimmen der
extremen Linken auf sich vereinen will. Für diese ist der 1973 gestürzte Staatschef immer noch die Symbolfigur schlechthin.
Den Kommunisten unter der umtriebigen Gladys Marin werden immerhin rund 6 Prozent zugetraut. Ihre Stimmen sowie jene für die Kandidaten Tomas Hirsch (Partido Humanista) und der grün-alternativen Sara
Larrain könnten im Jänner den Ausschlag dafür geben, dass mit Lagos erstmals seit Allende wieder ein sozialistischer Präsident an die Macht kommt.