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Fällt auch der Osten?

Von Gerhard Lechner

Politik

Bereits drei Tote bei Zusammenstößen.|Informations-Krieg im Internet.


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Donezk/Kiew/Wien. "Steh auf, steh auf, du gewaltiges Land!" Über die auf einem Kleinwagen montierten Lautsprecher erklingt der Schlager aus der Sowjetzeit, in dem mit großer Wucht der "heilige Krieg", der Zweite Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland besungen wird - es ist die Hymne von Größe und Macht, vom heldenhaften Kampf gegen den Faschismus. Der Wagen begleitet rund 2000 Demonstranten auf dem Weg durch die ostukrainische Stadt Donezk - von der Staatsanwaltschaft zur Zentrale des ukrainischen Geheimdiensts SBU, vom bereits einmal gestürmten Regierungsgebäude zum Firmensitz des Oligarchen Sergej Taruta, dem von Interimspräsident Alexander Turtschinow ernannten Gouverneur von Donezk. "Wir unterstützen die Entscheidung der Bevölkerung der Krim! Das ist auch unser Traum!", ruft die lokale Chefin des "Russischen Blocks", Natalja Belozerkowskaja, in die Menge. "Rossija, Rossija!" - Russland, Russland - lautet die Parole.

Bleibt es bei der Krim? Oder macht für Russlands Präsidenten Wladimir Putin "das Essen erst den Appetit", wie sich Tschechiens Ex-Außenminister Karel Schwarzenberg jüngst in einem Interview ausdrückte? Putins Hunger würde durch die Annexion der Krim "nur noch größer", meinte Schwarzenberg. Macht also das Modell der Krim Schule im Süden und Osten der Ukraine, einer Gegend, in der man russisch spricht und in der sich die Hochburgen des gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch befanden?

Mindestens drei Tote

Zumindest spitzt sich im Süden und Osten die Lage mehr und mehr zu. In Donezk hat es bei Zusammenstößen mit Anhängern der prowestlichen Regierung bereits mindestens einen Toten gegeben. In Charkiw, einer weiteren ostukrainischen Industriemetropole, hatte eine Schießerei zwischen radikalen Gruppierungen weitere zwei Todesopfer gefordert. Die Demonstranten in Donezk hissten auf mehreren Verwaltungsgebäuden die russische Flagge und forderten die Freilassung des selbst ernannten 31-jährigen "Volksgouverneurs" Pawel Gubarew. Er war festgenommen worden, nachdem er mit anderen prorussischen Aktivisten den Verwaltungssitz gestürmt und sich zum Gouverneur erklärt hatte. Wegen "Separatismus" war er vom Geheimdienst SBU verhaftet und nach Kiew überstellt worden, wo er sich derzeit in Untersuchungshaft befindet. In Charkiw stürmten prorussische Demonstranten die Büros mehrerer ukrainisch-nationaler Organisationen, etwa jenes des rechtsextremen "Rechten Sektors", der federführend an der Revolution in Kiew beteiligt war. Dessen Bücher wurden in einen Hof geworfen und angezündet. Die Polizei griff dabei nicht ein. Auch in Odessa, Lugansk, Saporoschje und Dnjepropetrowsk demonstrierten Hunderte für ein Referendum nach dem Vorbild der Krim.

Der Süden und Osten der Ukraine dürfte im Streit um das Brückenland zwischen Ost und West zum nächsten Brennpunkt werden. Die Lesarten des Konflikts könnten unterschiedlicher nicht sein: Während Russen und russlandfreundliche Ukrainer auf Facebook und Twitter von einem "Russischen Frühling" sprechen, der sich im Süden und Osten unwiderstehlich verbreite, bezeichnet das prowestliche Lager in der Ukraine die Demonstranten als bezahlte Provokateure des Kreml. Die Regierung in Kiew ließ sogar die Grenzen zu Russland abriegeln, um die Anreise organisierter prorussischer Demonstranten zu verhindern. Tatsächlich haben sich die vordem großen prorussischen Kundgebungen im Süden und Osten mittlerweile spürbar ausgedünnt.

Im Internet blüht der "Informationskrieg" und vergiftet das großteils unproblematische Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen. "Viele Menschen im Osten fürchten jetzt einen Einmarsch der Russen", sagt der Politologe Kyryl Savin aus Kiew der "Wiener Zeitung". "Man bereitet sich so gut es geht auf das Schlimmste vor. Manche wollen auch weggehen, nach Kiew, nach Lemberg oder gar - für gewisse Zeit - in den Westen", sagt der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew.

Föderalisierung des Landes?

Ob dieser Einmarsch der Russen wirklich kommt, ist unklarer denn je. Zwar wehrt sich Moskau nicht gerade gegen die prorussischen Aktionen im Nachbarland, zugleich dürften die Chancen des Kreml, sich den ganzen Süden und Osten der Ukraine einzuverleiben, nicht allzu hoch sein. Beobachter sprechen schon länger davon, dass es Ziel Putins sein könnte, den ukrainischen Zentralstaat so weit wie möglich zu föderalisieren. Tatsächlich hat Moskau am Montag seine Bereitschaft zu einer gemeinsamen Lösung mit dem Westen erklärt. Nötig dazu seien unter anderem eine Verfassungsänderung hin zu einem föderativen Staat sowie die Garantie von Russisch als zweiter Amtssprache. Die neue Regierung in Kiew hatte die Rechte der Minderheitensprachen Russisch, Ungarisch und Rumänisch stark eingeschränkt.