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Die Menschen im Osten der Ukraine leben seit Monaten in Kellern. Nun fürchten sie, dass der Krieg wieder näher rückt.
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"Obstril, Obstril, Obstril - Beschuss, Beschuss, Beschuss", so schildert Ala, eine Bewohnerin von Sewersk, fast 60 Jahre alt. Sie sitzt vor dem Eingang ihres Wohnblocks, einer der Nachbarn ist am Holzhacken. "Wir haben hier die ganze Zeit Beschuss. Man hat Angst und weiß nicht, wann es aufhört. Zuletzt ist der Beschuss sogar wieder schlimmer geworden."
Ala ist in einen dicken Wintermantel eingehüllt, sie schützt ihren Kopf mit einer Pelzkapuze vor der Kälte. Es liegt noch ein wenig Schnee in Sewersk, aber wenn sich die Sonne zeigt, dann gibt es eine erste Vorahnung auf den Frühling.
Die Bewohner des Ortes, der vor dem Krieg etwas weniger als 10.000 Einwohner hatte, können das Ende des Winters kaum mehr erwarten, denn seit zehn Monaten gibt es in Sewersk kein Gas, kein Fließwasser und keinen Strom mehr.

Monatelang war Sewersk eine Stadt in der Etappe, eine Aufmarschstation für die ukrainische Armee, die in Siewierodonetsk und Lysichansk kämpfte. Beide Städte fielen im Juni und im Juli an die russische Armee und Sewersk wurde zur Frontstadt. In manchen Frontabschnitten standen die russischen und ukrainischen Soldaten nur zehn Kilometer voneinander entfernt. Ende September vergangenen Jahres gelang es der ukrainischen Armee, das Dorf Bilohoriwka zu befreien, damit standen die Ukrainer wieder an den Toren von Lyssytschansk und der Krieg wich ein Stück weit von Sewersk zurück. Sewersk bleibt aber Frontstadt: Die heftig umkämpfte Stadt Bachmut ist nur 35 Kilometer südlich von Sewersk.
"Die Hoffnung stirbt zuletzt"
Ala war die ganze Zeit über in Sewersk, sie hat Tage erlebt, an denen man sich kaum aus dem Keller wagen konnte, und Tage von Gefechtspausen, an denen man darauf hoffen konnte, dass sich die Situation vielleicht ein wenig bessern würde.
"Haben Sie nicht vielleicht einmal daran gedacht, aus Sewersk wegzuziehen, an einen sichereren Ort", lautet die Frage an Ala.
"Njet. Nein."
"Warum nicht?"
Ala: "Wohin soll ich denn gehen?"
"Und wenn die Lage schwieriger wird?"
"Die Hoffnung stirbt zuletzt", sagt Ala.
Wasser besorgen, Holz holen, Essen holen - das alles stellt Ala vor Herausforderungen. Immerhin, die Freiwilligen brächten regelmäßig Lebensmittel erzählt sie. Sie bekommt auch regelmäßig ihre Pension, einer der Bewohner der Stadt, der regelmäßig in die nahegelegene Kreisstadt Kramatorsk fährt, bringt ihr das Geld von dort mit.

Die Monate des Krieges erscheinen der Pensionistin wie lange Jahre: "Manchmal erinnere ich mich daran, wie es vor dem Krieg war, wie es in Sewersk ausgesehen hat, bevor wir bombardiert wurden. Was ich nicht verstehen kann: Wir haben niemandem etwas getan und trotzdem schießt man auf uns."
Von ihrer Familie erzählt Ala ungern, ihr Sohn ist schon vor Jahren weg aus Sewersk, als die Rede auf ihn kommt, winkt sie ab. Nur so viel: Sie stünden einander nicht sehr nah, der Kontakt sei alles andere als eng. Es schwingt Bitterkeit und Traurigkeit in den Worten von Ala. "Was mir in den Kriegsmonaten klar geworden ist: Das Leben ist das Wertvollste, was wir haben."
Doch das Leben ist ständig in Gefahr in Sewersk.
Gleich an der Ecke hinter dem Wohnblock Nummer drei, in dem Ala lebt, sind zwei Gräber von zwei Menschen, die durch Beschusseinwirkung ums Leben gekommen sind. Der Weg zum Friedhof wäre zu der Zeit, in der die beiden ums Leben gekommen sind (am 7. und 8. Juli), zu gefährlich gewesen, also mussten sie hinter dem Haus beerdigt werden.
Unterdessen ist ein Kühllastwagen an der nahegelegenen Kreuzung vorgefahren. Der Lkw hält vor einem kleinen Laden, zwei Männer beginnen mit dem Ausladen ihrer Fuhre. Kraut, Zwiebel, Karotten, Limonade, Mineralwasser. Der Fahrer trägt eine Splitterschutzweste, er erzählt, dass er während der ganzen Zeit der Kämpfe regelmäßig seine Tour zum Laden in der Stadt gemacht hat, um die Bewohnerinnen und Bewohner mit Lebensmitteln zu versorgen. Im Supermarkt ist es dunkel, die Wursttheke und die Regale bieten nicht gerade viel Auswahl, aber immerhin, es gibt Lebensmittel und Getränke, sogar Milch, Käse und Butter.
Reden will die Besitzerin des Ladens nicht, es gebe nichts zu erzählen, sagt sie. Jeder könne sehen, was hier in Sewersk los ist.
Niemand sollte mehr hier sein
Oleksii Worobiow ist der Chef der Militärverwaltung von Sewersk, er war zuletzt auf dem ukrainischen Sender UATV - der zur Ukrainischen Nachrichtengagentur Ukrinform gehört - zu sehen: "Der Feind versucht, die verbliebene Infrastruktur, die noch intakt ist, zu vernichten." 1.500 Menschen seien noch in Sewersk, berichtet Worobiow, davon 60 Kinder.
Eigentlich sollte niemand mehr in Sewersk sein, die Stadtverwaltung hat bereits vor Monaten die Bewohner dazu aufgerufen, Sewersk zu verlassen.
Ein wenig außerhalb von Sewersk gibt es eine kleine Klinik, in der Menschen medizinische Betreuung bekommen können. Am Vorplatz: Ein riesiger Haufen aus geschnittenem und gehacktem Holz, denn auch die Klinik ist vom Gas- und Stromnetz getrennt, geheizt wird auch hier mit Gas. Doch hier gibt es nur eine Erstversorgung, beziehungsweise man kümmert sich um die chronischen Erkrankungen der Patientinnen und Patienten, für kompliziertere Fälle hat man hier längst weder das erfahrene Personal noch die notwendige Ausstattung.
Das Klinikgebäude ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, die Fenster sind kaputt, das Dach ist beschädigt.
Acht schlichte Holzkreuze
Auf einer Wiese hinter der Klinik stehen acht schlichte Holzkreuze. Auch hier wurden die Toten gleich hinter dem Gebäude der Klinik beerdigt.
An jenen Kreuzen, bei denen die Daten zu lesen sind, ist abzulesen, dass jene, die in den Gräbern liegen, im Mai, Juli und November verstorben sind. Das Sterben könnte in Sewersk bald weitergehen: Die ukrainischen Militärs befürchten Angriffe durch russische Truppen und haben die Stadt für die Verteidigung gerüstet. Denn sollte die ukrainische Armee Bachmut in den kommenden Tagen oder Wochen aufgeben müssen, dann könnten jene russischen Kräfte, die bisher bei den Angriffen auf Bachmut gebunden waren, für Aktionen in Richtung Sewersk eingesetzt werden und zu einer direkten Bedrohung für die Stadt werden. Sewersk droht für diesen Fall die Einkesselung durch russische Truppen.
Mitarbeit: Alex Babenko, Yevhen Titov