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Gegenwärtig wird die öffentliche Diskussion von Propheten beherrscht, die eine Vorliebe dafür haben, den Teufel an die Wand zu malen. Die Lage des Planeten Erde, verkünden sie, würde sich von Tag zu Tag verschlechtern, das Artensterben habe verheerende Ausmaße angenommen, weltweit sei es zu einem dramatischen Klimawandel gekommen, und eine totale ökologische Katastrophe stünde unmittelbar bevor.
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Von solchen und ähnlichen apokalyptischen Prognosen hält der Münchner Evolutionsbiologe Joseph Reichholf gar nichts. In seinen Augen stehen die gesellschaftlichen Schäden und Kosten, die sie verursachen, in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Und ihren geringen Nutzen führt er darauf zurück, dass sie sich samt und sonders auf verzerrte Wahrnehmungen, unhaltbare Grundannahmen, Fehldeutungen und Fehlschlüsse stützen - und deshalb regelmäßig scheitern.
"Jahrtausendhochwasser"
Als zum Beispiel im August 2002 die Elbe über die Ufer trat und weite Teile Ostdeutschlands überflutete, erschienen sofort Untergangspropheten auf dem Plan, die die globale Erwärmung für dieses "Jahrtausendhochwasser" (in Österreich: "Jahrhundertflut") verantwortlich machten und eine Serie noch schlimmerer Katastrophen ankündigten. Reichholf fällt es nicht schwer, diese Behauptungen als substanzlos zu entlarven. Tatsächlich ereigneten sich nämlich die schlimmsten Flutkatastrophen nicht in den letzten 50 oder 100 Jahren, sondern in den Jahrhunderten davor.
Damals erreichten die Rhein-, Donau- und Innhochwasser ihre Maximalstände - und das zu einer Zeit, als die Flussläufe Mitteleuropas noch nicht durch Dämme, Deiche, Talsperren und Wehre eingeengt waren. Die Untergangspropheten berufen sich deshalb zu Unrecht auf steigende Pegelstände, die nichts darüber aussagen, welche Wassermengen die Flüsse geführt haben.
Die Befunde der historischen Klimaforschung sind eindeutig: Seit Tausenden von Jahren ist das Klima Mitteleuropas starken Schwankungen unterworfen. Im Mittelalter waren die Sommer durchschnittlich um 1,0 bis 1,4 Grad Celsius wärmer als heute, und in einigen Phasen des Hochmittelalters war es sogar derart heiß, dass die Alpengletscher bis auf einen kläglichen Rest wegschmolzen. Hingegen wurde es zwischen 1500 und 1800 derart kalt, dass die Klimatologie dieses Zeitspanne als "Kleine Eiszeit" bezeichnet.
Keine harmonische Ordnung
Inzwischen steigen die Temperaturen wieder. Dass dies auch mit der erhöhtem Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre zusammenhängt, bestreitet Reichholf nicht. Aber er beharrt darauf, dass es an sich wenig besagt, ob die Durchschnittstemperaturen um ein oder zwei Grad zu- oder abnehmen. Fest steht nur eines: Zu einem Klimawandel wird es sowieso kommen. Dabei werden einige Regionen gewinnen und andere verlieren.
"Am Anfang war das Paradies." Dies und nichts anderes, behauptet Reichholf, ist die Quintessenz der ökologischen Untergangsprophezeiungen. Demnach war die Natur ursprünglich ein perfekt organisierter und perfekt funktionierender Haushalt. Doch dann betrat der Mensch die Bühne der Evolution und brachte alles durcheinander, was harmonisch geordnet war. Reichholf macht mit dieser Auffassung kurzen Prozess. Er verwirft sie, weil sie Ökosystemen fälschlich das Bestreben zuschreibt, im Zustand des Gleichgewichts zu verharren. Das trifft aber nur auf Organismen zu.
Hingegen zeichnen sich Ökosysteme durch ihre Offenheit aus, die es ihnen ermöglicht, sich ihrer unbeständigen Umwelt anzupassen. Ökosysteme sind gerade nicht auf die Aufrechterhaltung bestimmter Sollwerte programmiert. Wäre es anders, könnten sie mit Katastrophen nicht fertig werden, und der Prozess der Evolution, der in erster Linie von Katastrophen angetrieben wird, hätte nie stattgefunden.
Beharren auf Status quo
Reichholfs "ketzerisches" Fazit: Fast allen Untergangspropheten ist der Glaube gemeinsam, in der besten aller möglichen Welten zu leben. In Wahrheit geht es ihnen darum, den Status quo zu bewahren, das heißt die Vorherrschaft der mächtigen und privilegierten westlichen Welt aufrechtzuerhalten. Dieser Umstand und die in der menschlichen Natur angelegte Abneigung gegen abrupte Veränderungen erklären, warum man ihnen trotz ihrer Irrtümer nach wie vor blind vertraut.
Reichholfs ebenso provokativer wie brillanter Essay ist nicht frei von Einseitigkeiten und Überspitzungen. Aber dafür räumt er umso gründlicher mit einer ganzen Reihe zählebiger Vorurteile und Mythen auf. Und er wartet mit einer überraschenden, aber schwer von der Hand zu weisenden These auf: Nicht die Großindustrie, sondern die Landwirtschaft trägt am meisten zur Zerstörung von Ökosystemen bei. (Joseph H. Reichholf: "Die falschen Propheten. Unsere Lust an Katastrophen." Verlag Wagenbach, Berlin 2002. 139 S., 11,30 Euro.)