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Die EU will eine Wertegemeinschaft sein. Und die ansteigende Vehemenz, mit der dieser Anspruch beschworen wird, zeigt, wie sehr die Wirklichkeit hinterherhinkt. Die übliche Lesart sieht vor, dass rechtskonservative und rechtspopulistische Parteien vor allem in Ungarn (wo am Sonntag gewählt wird) und Polen den europäischen Konsens von Rechtsstaatlichkeit aufgekündigt haben und eine "illiberale Demokratie" propagieren.
Das ist alles richtig, und trotzdem nicht die ganze Wahrheit. In Rumänien versuchen sozialdemokratische Regierungen seit bald zehn Jahren, sich die Justiz gefügig zu machen, um so die Verfolgung korrupter Politiker zu erschweren. Die kleine Inselrepublik Malta, in der einander reibungslos linke und konservative Regierungen ablösen, erfüllt alle Kriterien eines Mafiastaats, der nicht einmal vor der Ermordung einer unbequemen Aufdeckerin zurückschreckt. Das gleiche Schicksal widerfuhr kürzlich einem slowakischen Journalisten, der den Netzwerken hinter dem sozialdemokratischen Premier auf der Spur war.
Mord aus politischen Motiven auf dem Boden der EU: Das ist ein Teil der deprimierenden Realität.
Als wäre das für sich genommen nicht schon tragisch genug, verhindert der parteipolitische Überbau der europäischen Politik eine entschlossene gemeinsame Reaktion auf diese gravierenden Fehlentwicklungen.
Ungarns Premier Viktor Orbán weiß, dass er mit den Angriffen von Europas Sozialdemokratien und Liberalen weitgehend entspannt umgehen kann, weil er sich einer zumindest stillen Rückendeckung der Konservativen sicher sein kann, die sich in der Europäischen Volkspartei zusammengefunden haben. Ganz ähnlich, nur umgekehrt, verhält es sich mit den slowakischen, rumänischen und maltesischen Regierungsparteien, die sich aktuell allesamt in den Reihen der EU-Sozialdemokraten wohlfühlen.
Weil so viel von der mangelnden Solidarität in Europa die Rede ist: Auf diese Form von parteipolitischem Beistand angesichts gravierender Verstöße gegen die europäische Werteordnung könnte die Union getrost verzichten. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Rückendeckung aus parteipolitischem Eigeninteresse selbst um einen gravierenden Verstoß gegen das angeblich gemeinsame Wertefundament.
Aber die Pro-Europäer sollten sich nicht selbst betrügen: Selbst wenn es mit der parteipolitischen Seilschaften ein Ende hätte, wäre die Krise der EU nicht vorbei. Finanzpolitik und Migration trennen die EU in Nord und Süd sowie West und Ost. Und was alle eint, ist das Unbehagen über das Demokratiedefizit europäischer Entscheidungen.
All das wird noch lange so bleiben. Am Sonntag sind erst einmal Ungarns Wähler am Wort.